Schlagzeilen zum sogenannten Londoner Patient
Heiko Jessen ist einer der profiliertesten forschenden Ärzte im Bereich HIV. Der erste Berliner Patient, der seit 1996 ohne eine Antiretrovirale Therapie lebt und dennoch keine HI-Viruslast hat, stammt aus seiner Praxis Jessen2 + Kollegen in Berlin-Schöneberg (www.praxis-jessen.de). Der richtige Ansprechpartner also, wenn es um angebliche Heilung von HIV und die Einschätzung der Langzeitfolgen einer modernen HIV-Therapie geht. Wir trafen uns zum Gespräch.
Vor kurzem wurde in den Medien darüber berichtet, dass erste Patienten durch eine Stammzellentransplantation von einer HIV-Infektion geheilt wurden. Provokativ gefragt: Ist eine Heilung auf diese Weise erstrebenswerter, als die lebenslange Behandlung mit der modernen Antiretroviralen Therapie?
Nein. Die Stammzellentherapie ist extrem aggressiv. Durch Bestrahlung und Chemotherapie wird das gesamte Immunsystem des Patienten zerstört. Selbst wenn man das überlebt, bleiben meist körperliche Schäden. Es ist unethisch Jemanden mit einer Therapie zu vesehen, bei der zwei von drei Patienten*innen sterben. Das geht nur, wenn eine zusätzlich gefunden Leukämie nicht mehr anders behandelbar ist. Die moderne HAART besteht dagegen im Idealfall aus einer Therapie mit nur noch einer Tablette am Tag und absolut überschaubaren bis gar keinen Nebenwirkungen. Das bringt fast immer eine normale Lebenserwartung und -qualität. Wenn ich mir persönlich heute aussuchen müsste, ob ich lieber eine koronare Herzerkrankung, aggressiven Bluthochdruck oder HIV haben möchte, würde ich mich für HIV entscheiden, weil meine Lebenserwartung meist höher wäre, als bei den anderen chronischen Erkrankungen.
Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern, damit Menschen mit HIV unbeschwert älter werden können?
Ganz wichtig ist es, das HIV-Stigma zu durchbrechen. Über die eben genannten Krankheiten kann ich mich mit meinem Nachbarn unterhalten, mit HIV geht das nach wie vor nicht. Die Schwelle sich testen zu lassen, muss weiter gesenkt werden, um sogenannte Late Presenter früher zu erreichen. Der gerade eingeführte Selbsttest aus der Apotheke ist ein gutes Beispiel. Insgesamt muss auch von Seiten der BzgA und der Aidshilfen noch viel mehr in Richtung Aufklärung der Hausärzt*innen getan werden. Deutschland hinkt da hinterher.
*Interview: Christian Knuth