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Originalbericht vom 27. April
Entsetzen in Lettland nach homophobem Brandanschlag
Ein Wohnungsbrand in Tukums westlich der lettischen Hauptstadt Riga wird zum Politikum. Was am 23. April wie ein Unfall oder Selbstmord dargestellt wurde, war – so Zeugen – ein homophober Brandanschlag. Eines der Opfer kämpft noch ums Überleben.
Immer mehr verdichten sich in Lettland die Anzeichen, dass ein zunächst von Medien und Polizei heruntergespielter Brand in einem fünfstöckigen Wohnhaus in der Kleinstadt Tukums ein homophobes Verbrechen war. Am gestrigen 26. April beriet sogar die Regierung des Landes, Ministerpräsident Krišjānis Kariņš verurteilte die Vorgehensweise der Polizei und kündigte neue Gesetze gegen Homophobie an.
„Die Staatspolizei muss in der Lage sein, sich für ihre Aussagen zu verantworten. Die Öffentlichkeit braucht Klarheit über die tragischen Ereignisse in Tukums. Intoleranz, Homophobie und Gewalt haben in unserer Gesellschaft keinen Platz."
Krišjānis Kariņš, Ministerpräsident Lettland
Was geschah in Tukums?
In der Nacht vom 22. auf den 23. April wurde die Feuerwehr zu einem Wohnungsbrand in einem fünfstöckigen Wohnhaus in der rund 20.000 Einwohner zählenden Stadt Tukums, 66 Kilometer westlich der lettischen Hauptstadt Riga gerufen. In ersten Medienmeldungen war von einem Kleiderhaufen die Rede, der im Treppenhaus in Brand geraten sei. Schnell wurde aber auch klar, dass bei dem Brand zwei junge Männer verletzt wurden, einer davon so schwer, dass er bis heute in einer Spezialklinik in Riga ums Überleben kämpft und bisher nicht über den Tathergang aussagen konnte. In den lettischen Medien kursierten am 23. April Interpretationen über einen missglückten Selbstmordversuch, bis heute ist nicht geklärt, wie diese zustande kamen. Die Feuerwehr distanzierte sich von den Gerüchten, sie habe zu keiner Zeit eine solche Meldung herausgegeben. Auch die Polizei und der Staatsschutz des Landes wollten sich bis gestern nicht eindeutig zu den Vorgängen äußern. Aus ermittlungstaktischen Gründen, wie es hieß.
Opfer klagt an: Wir wurden bedroht
Gegenüber der Lokalzeitung Neatkarīgās Tukuma Ziņas meldete sich noch im Laufe des 23. April ein junger Mann (23), der angab, eines der beiden Opfer zu sein, aus dem Zentrum für Brandopfer in Riga. Er stieß die darauf folgende Debatte über das Verhalten von Behörden und Medien an, die gestern dann auch ganz offiziell die Regierung Lettlands erreichte.
Die queere NGO LGBT HOUSE RIGA, die laufend über die Ereignisse berichtet, ruft die lettische Bevölkerung auf, Blut zu spenden, da für die Behandlung des Berichten nach bis zu 85 Prozent verbrannten Opfers, des 29-jährigen Normund, Plasma benötigt werde
„Ich bin das Opfer dieses Unfalls. {...} Ich habe mir die Beine schwer verbrannt, weil ich versucht habe, meinen Freund zu retten, der im Treppenhaus angegriffen wurde. Normund wurde mit Kraftstoff besprüht und in Brand gesetzt! {...} Ich wachte um 4 Uhr morgens von den Schreien und Hilferufen meines Freundes auf. Als ich die Tür öffnete, brannte er bereits! Und jetzt ist Normunds auf der Intensivstation und kämpft um sein Leben. Er hat 85% Verbrennungen und Ärzte kämpfen um das Leben meines Freundes! Aber Sie schreiben, dass ein Haufen Lumpen verbrannt ist! {…} Hat die Polizei wirklich solche Informationen gegeben?! {...} Wollten Selbstmord begehen? Das war es nicht! Es ist nicht wahr!"
Augenzeugenbericht aus der NTZ
Der Premierminister und Vertreter der Koalition, die an dem Arbeitstreffen teilgenommen haben, kommentierten, was in Tukums passiert ist. Sie verurteilten die Hassattacken und versprachen, an einer Gesetzesänderung zu arbeiten.
Dem Bericht nach sagte der Mann weiter aus, dass die beiden schwulen Männer bereits seit Monaten von einem Nachbarn bedroht worden seien und dies auch zur Anzeige gebracht worden sei. Die Polizei habe die Anzeige aber nicht weiter verfolgt und das Verfahren eingestellt, wie sie gegenüber der Neatkarīgās Tukuma Ziņas bestätigte:
„Zuvor hatte das Opfer die Drohungen einmal im November 2020 der Polizei gemeldet. Nach Prüfung der Informationen wurde beschlossen, die Einleitung eines Strafverfahrens abzulehnen, gegen diese Entscheidung wurde kein Rechtsbehelf eingelegt. Aufgrund der laufenden Untersuchung dürfen wir noch keine weiteren Informationen über den Fortschritt der Untersuchung liefern."
Janeks Bach, Leiter des Bezirks Tukums bei der Staatspolizei
Gerüchte und Mauern der Polizei beunruhigt queere Aktivisten
Foto: instagram.com/kasparz
Kaspars Zālītis, Vorsitzender der queeren Organisation Mozaīka (Mosaik) äußerte in mehreren Stellungnahmen seine Beunruhigung über die zögerlichen Aussagen der Behörden und den grundsätzlichen Anstieg von homophober Hassrede in Lettland in den vergangenen Monaten. Er fordert die Regierung auf, den Worten nun auch Taten folgen zu lassen und diesen sowie andere Fälle von homophoben Hassverbrechen konsequent zu verfolgen. Auf Twitter teilte die Organisation mit, in engem Kontakt mit Artis (dem 23-jährigem leichter verletzen Opfer) zu stehen:
„(Wir) verfolgen den Fortschritt der Untersuchung und konsultieren die besten lettischen Anwälte während des gesamten Prozesses. Wir bemühen uns derzeit um rechtliche und moralische Unterstützung.“
Lettland gilt als eines der homophobsten Länder der Europäischen Union, dennoch gibt es – auch aufgrund von EU-Menschenrechtsrichtlinien – immer wieder Vorstöße, zum Beispiel eine eingetragene Lebenspartnerschaft einzuführen. Erst in diesem Jahr urteilte das Verfassungsgericht des Landes, dass gleichgeschlechtliche Paare bei der Erbschaftssteuer Ehepaaren und Verwandten gleichgestellt werden müssten. Ein erneuter Anlauf für die Einführung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft liegt in Folge einer Petition seit April letzten Jahres in der Saeima, dem Parlament des Landes vor.
Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen Lettlands berichtete über den Fall und teilte mit, dass interne Untersuchungen der Polizei begonnen hätten, die das Vorgehen der Behörden aufklären sollen.
Update 29. April 2021
Opfer erliegt schweren Verbrennungen
Der 29-jährige Normunds hat es nicht geschafft. Er erlag seinen schweren Verbrennungen, die ihm laut Zeugenaussage seines Mitbewohners bei dem mutmaßlichen Brandanschlag von einem homophoben Nachbarn zugefügt worden sein sollen.
In den sozialen Medien nehmen Freunde und Kollegen des jungen Arzthelfers und die queere Community traurig und wütend Abschied.
Trauer auch im LGBT House Riga
Es ist nun an den Behörden, die Geschehnisse vollumfänglich aufzuklären. Die queere Community Lettlands und Freunde und Familie von Normunds verdienen mehr als hole Worte.