Ein indischer Richter sprach am Montag ein beispielloses Urteil in Indien, in dem er sich für die queere Community einsetzte. Richter N Anand Venkatesh stellte weitreichende Regeln auf, die dazu beitragen sollen, das Leben von Queers in Tamil Nadu, dem südlichsten Bundesstaat Indiens, zu verbessern. Der Bundesstaat hat damit ab sofort die fortschrittlichsten Gesetze für Queers im ganzen Land und ist unter anderem die erste Region in Indien, die Konversionsverfahren verbietet. Der Staat, der eine Bevölkerung von rund 70 Millionen Menschen umfasst, nimmt damit eine Vorreiterrolle ein. Doch wie kam es dazu?
Liebe zweier Frauen sorgt für Fortschritt
Die folgenschwere Entscheidung kam im Fall eines lesbischen Paares, das sich Polizeischikane und intimen Fragen ausgesetzt sah, nachdem ihre Eltern sie als vermisst gemeldet hatten. Die Frauen im Alter von 22 und 20 Jahren waren zuvor aus ihrer Heimatstadt Madurai geflohen, nachdem beide Elternpaare sich geweigert hatten, die Beziehung ihrer Töchter zu akzeptieren. Die Frauen, die nun in der Stadt Chennai lebten, sahen sich nach der Vermisstenanzeige ihrer Eltern von der Polizei verfolgt. Sie reichten daraufhin eine Klage beim Madras High Court ein und forderten die Einstellung der Vermisstenmeldung. Das Obergericht sitzt in Chennai (die Stadt hieß bis 1996 Madras), seine Zuständigkeit erstreckt sich über den gesamten Bundesstaat Tamil Nadu.
In seiner Entscheidung am Montag (7. Juni) sagte Richter N Anand Venkatesh, der Fall des Paares habe „ein wichtiges Thema ans Licht gebracht hat, das eine Entstigmatisierung und Akzeptanz in den Augen der Gesellschaft erfordert“.
Foto: Diptendu Dutta / AFP
Indien Pride CSD
Richter Venkatesh entschied zu Gunsten des Paares und ordnete zudem zahlreiche Reformen an, die das Leben von queeren Menschen in Tamil Nadu einfacher machen werden. In den Gerichtsdokumenten gab Venkatesh zu, dass auch er durch den Fall seine eigenen Vorurteile gegenüber der LGBTIQ* Gemeinschaft überwunden habe. Er habe daran gearbeitet, indem er unter anderem einen Psychologen und eine Transgender-Frau, die auch Ärztin ist, konsultierte. Seine Recherchen hätten ihm dabei geholfen, zu seinen Schlussfolgerungen zu gelangen und das Urteil zu sprechen.
Sein Urteil umfasst folgende weitreichende Änderungen für die Community in Tamil Nadu:
- Die Polizei soll Ermittlungen gegen vermisste Personen in der LGBT+-Gemeinschaft künftig einstellen, wenn sich herausstellt, dass sie in einer einvernehmlichen Beziehung leben.
- Das Ministerium für soziale Gerechtigkeit und Ermächtigung soll LGBT+-Organisationen auf seiner Website auflisten und geeignete Änderungen an Obdachlosenunterkünften für trans* Personen vornehmen, damit diese „ein Leben in Würde und Respekt“ führen können.
- Fachleute im Gesundheitswesen sollen in Zukunft Unterstützung für Queers anbieten, da diese „mit Stigmatisierung und Diskriminierung durch die Gesellschaft konfrontiert sind“.
- Jeder Versuch, die sexuelle Orientierung von LGBTIQA+ Menschen zu heterosexuell oder die Geschlechtsidentität von Transgender-Menschen zu cisgender medizinisch zu 'heilen' oder zu ändern, ist verboten.
- Konversionstherapie-Praktizierenden wird die Lizenz entzogen. Die Nationale Medizinische Kommission, die Indische Psychiatrische Gesellschaft und der Rehabilitationsrat von Indien wurden von ihm angewiesen, die Lizenz aller Fachleute zu widerrufen, die sich „an irgendeiner Form oder Methode der Konversions-'Therapie' beteiligen“.
- Schulen und Universitäten sind angewiesen, Student*innen über das Verständnis der LGBTIQ*-Gemeinschaft aufzuklären.
- Bildungseinrichtungen sollen trans* Jugendlichen erlauben, ihren offiziellen Namen und ihren Geschlechtseintrag in den akademischen Unterlagen zu ändern.
- Die Regierung von Tamil Nadu sowie die Regierung Indiens wurden aufgefordert, für ihre Mitarbeiter Sensibilisierungsprogramme über queere Menschen einzuführen.
Richter Venkatesh machte in seiner umfassenden Urteilserklärung deutlich, dass er zudem verschiedene Regierungsabteilungen und -organe überwachen und regelmäßig kontrollieren wird, um sicherzustellen, dass seine Urteile umgesetzt werden. Seine Entscheidung stellt einen weiteren nächsten Meilenstein auf dem Weg zur Gleichstellung und Akzeptanz für die queere Community in Indien dar – knapp drei Jahre, nachdem das Kolonialzeit-Verbot von homosexuellem Sex durch das Oberste Gericht Indiens aufgehoben wurde. Das Urteil aus Tamil Nadu unterstreicht, welch wichtige Entwicklung für LGBTIQ* im September 2018 dadurch in Gang gesetzt wurde.