In den USA ist die Zahl der Schulbuchverbote drastisch gestiegen. Über 10.000 Fälle verzeichnete die Organisation PEN America im letzten Schuljahr. Nahezu alle der vom Verbot betroffenen Bücher thematisieren Rasse, Sexualität und Geschlechtsidentität.
Von Juli 2023 bis Juni 2024 verzeichnete PEN America 10.046 Fälle von Buchverboten in 29 Bundesstaaten und 220 öffentlichen Schulbezirken. Der Index of Banned Books from the 2022-2023 school year listet 4.231 Einzeltitel auf, die verboten oder vom Lehrplan gestrichen wurden.
Wie PEN America in ihrem am 27. Februar veröffentlichten Bericht schreibt, enthielten 36 Prozent der über 4.000 verbotenen Titel Charaktere oder Personen mit dunkler Hautfarbe und 25 Prozent LGBTIQ*-Charaktere oder -Personen. Von den Titeln mit LGBTIQ*-Personen enthielten 28 Prozent einen Transgender- und/oder Genderqueer-Charakter. Einer von zehn der verbotenen Titel handelten von Charakteren oder Personen mit einer körperlichen und/oder Lern- oder Entwicklungsbehinderung.
Angriff auf marginalisierte Gruppen
Sabrina Baêta, Senior Managerin des Freedom to Read-Programms von PEN America, spricht von einer gezielten Zensur. „Wenn wir Bücher über bestimmte Gruppen aus den Regalen der Bibliotheken räumen, machen wir den Zweck einer Bibliothekssammlung zunichte, die das Leben aller Menschen widerspiegeln soll. Die schädlichen Folgen für junge Menschen sind real.“
„Die gezielte Zensur ist ein schädlicher Angriff auf historisch marginalisierte und unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen – ein gefährlicher Versuch, ihre Geschichten, Errungenschaften und ihre Geschichte aus den Schulen zu verbannen“,
Laut dem National Center for Education Statistics zufolge sind mehr als die Hälfte aller US-amerikanischen Schüler*innen farbig. Einer aktuellen Gallup-Umfrage zufolge identifizieren sich jüngere Generationen auch zunehmend als LGBTIQ*. Fast ein Viertel (23,1 Prozent) der Generation Z bezeichnet sich selbst als LGBTIQ*.
Bücher über PoC und LGBTIQ* am häufigsten verboten
Zum ersten Mal hat PEN America auch die Genres erfasst, die verboten wurden. Die am häufigsten verbotenen Genres im letzten Jahr waren realistische Fiktion, Dystopie/Sci-Fi/Fantasy, Geschichte und Biografie, Krimi und Thriller, Lehrbücher sowie Memoiren und Autobiografien.
PEN America stellte fest, dass People of Color und LGBTIQ*-Personen in mehreren Kategorien überproportional betroffen waren. So thematisierten 44 Prozent der verbotenen Geschichts- und Biografietitel People of Color, 26 Prozent davon speziell Schwarze. Von den verbotenen Titeln mit Bildern oder illustriertem Inhalt hatten 60 Prozent Illustrationen mit Bezug zu Rasse und Rassismus oder zeigten farbige Charaktere.
25 Prozent der verbotenen Geschichts- und Biografietitel handelten von LGBTIQ*-Personen und 9 Prozent von Trans- und Genderqueer-Personen. Mehr als ein Drittel, nämlich 39 Prozent, der verbotenen Titel mit Bildern oder illustriertem Inhalt enthielten LGBTIQ*-Themen und -Figuren.
Bilderbücher machten etwa 2 Prozent aller verbotenen Titel aus. PEN America stellte fest, dass „nirgendwo der Angriff auf Geschichten von LGBTIQ*-Kindern und -Familien deutlicher zutage tritt“ als in dieser Kategorie, wo etwa 64 Prozent aller verbotenen Titel LGBTIQ*-Figuren oder -Geschichten enthalten.
Die Analyse ergab auch, dass Buchverbote häufig Titel betreffen, in denen mehr als eine marginalisierte Identität vorkommt. Mehr als die Hälfte (54 Prozent) aller verbotenen Bücher mit LGBTIQ*-Charakteren oder -Personen enthielten auch farbige Charaktere oder Personen.
Sprunghafter Anstieg
Die Organisation spricht zudem von einem drastischen Anstieg bei den Buchanfechtungen und -verboten in den letzten Jahren. Nach 2.532 Fällen (2021-2022) und 1.577 Fällen (2022-2023) ist die Zahl der angefochtenen Bücher im Jahr 2023-2024 auf 4.218 Fälle gestiegen – das ist der höchste jemals von PEN America dokumentierte Stand.
Verantwortlich für die Anfechtungen sind hauptsächlich Eltern und konservative Aktivist*innen – neben der Thematisierung von Rassismus und Queerfeindlichkeit sind ihnen insbesondere Bücher, die Themen behandeln, mit denen junge Menschen in der realen Welt konfrontiert sind, ein Dorn im Auge.
Verschärfte Angriffe verzeichnete PEN America auf Bücher mit sexbezogenen Themen und Inhalten und auf Bücher, die sich mit Trauer und Tod, mit Substanzgebrauch oder -missbrauch und mit psychischen Störungen auseinandersetzen oder Empowerment und Selbstwertgefühl ansprechen.
Jodi Picoult, deren Buch „Nineteen Minutes“ die Liste der am häufigsten verbotenen Bücher im Schuljahr 2023-2024 anführt, spricht von einem Alarmzeichen.
„Das am häufigsten verbotene Buch des Landes zu haben, ist keine Auszeichnung - es ist ein Alarmzeichen. Nineteen Minutes ist nicht verboten, weil es von einer Schießerei an einer Schule handelt, sondern wegen einer einzigen Seite, auf der eine Vergewaltigung dargestellt wird und anatomisch korrekte Wörter für den menschlichen Körper verwendet werden. Das Buch ist weder überflüssig noch anzüglich, und es ist auch kein Porno, wie auf den Bannern behauptet wird.
Tatsächlich haben mir Hunderte von Kindern erzählt, dass die Lektüre von Nineteen Minutes sie davon abgehalten hat, eine Schießerei in der Schule zu begehen, oder ihnen gezeigt hat, dass sie mit ihrem Gefühl der Isolation nicht allein sind.
Mein Buch und die zehntausend anderen, die in diesem Jahr aus den Regalen der Schulbibliotheken entfernt wurden, geben Kindern ein Werkzeug an die Hand, mit einer zunehmend gespaltenen und schwierigen Welt umzugehen. Diese Buchverbote helfen den Kindern nicht. Sie schaden ihnen.“