Nach erst jahrelanger Ignoranz und dann langem Tauziehen um Einzelheiten, hat die Bundesregierung heute die Rehabilitation und Entschädigung der Opfer des sogenannten „Schwulenparagrafen" 175 verabschiedet.
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§175
Einsamkeit. Eine der Folgen der Verfolgung schwuler Männer unter dem Unrechtsparagraphen 175. Foto: C. Falk pixelio.de
Der von der SPD und Justizminister Heiko Maas eingebrachte Gesetzentwurf sieht vor, alle nach 1945 wegen homosexueller Handlungen Verurteilter mit einer Summe von je 3000 Euro pauschal zu entschädigen. Zusätzlich soll jedes „angefangene Jahr erlittener Freiheitsentziehung" mit 1.500 Euro entschädigt werden. Für 2017 wurden dafür 4,5 Millionen Euro bereitgestellt.
LSVD, Magnus-Hirschfeld-Stiftung und SPD reagieren erleichtert.
Helmut Metzner, Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD):
„Endlich hat das Bundeskabinett den Weg frei gemacht für den lange versprochenen Gesetzentwurf zur Rehabilitierung und Entschädigung der verfolgten Homosexuellen. Der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) begrüßt, dass damit nach langen Jahrzehnten der Ignoranz endlich rechtspolitische Konsequenzen aus den schweren und massenhaften Menschenrechtsverletzungen gezogen werden, die auch vom demokratischen Staat an homosexuellen Menschen begangen wurden."
Der Beautragte der SPD-Bundestagsfraktion für die Belange von LSBTI*Q, Johannes Kahrs, freut sich auf Twitter „wie Bolle":
„Als Beauftragter der SPD-Bundestagsfraktion für die Belange von Lesben und Schwulen bin ich sehr stolz, dass sich Heiko Maas gegen alle Widerstände der Union im Kabinett durchsetzen konnte. Es kann aber nur der erste Schritt zu einer vollen rechtlichen Gleichstellung Homosexueller sein. Deshalb fordern wir in einem zweiten Schritt, die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare noch in dieser Legislaturperiode."
Jörg Litwinschuh, geschäftsführender Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (BMH):
„Dieser Gesetzentwurf ist ein bedeutender Meilenstein auf dem langen Weg zur Rehabilitierung der Opfer des § 175 StGB. Wir danken den vielen Akteur_innen, allen voran dem Bundesjustizminister Heiko Maas, der Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Christine Lüders und denjenigen Abgeordneten in allen Bundestagsfraktionen, die sich für die Rehabilitierung engagiert haben. Seit der Gründung der Bundesstiftung 2011 begleitet dieses Thema auch uns intensiv. Wir lassen Betroffene zu Wort kommen und bewahren ihre Geschichte und Geschichten: Unser Stiftungsprojekt ‚Archiv der anderen Erinnerungen’, das seit 2013 die Schicksale und selbstbewussten Lebensgeschichten verfolgter Schwuler und Lesben anhand von Videointerviews dokumentiert, konnte bei vielen Politiker_innen die Emotionen wecken, die zu einer ernsthaften Beschäftigung mit den Folgen des Unrechts geführt haben. Das hat aus meiner Sicht mit dazu beitragen, dass die Rehabilitierung der Opfer der Strafverfolgung in greifbare Nähe gerückt ist. Ich bin sehr froh darüber, dass nun endlich Gerechtigkeit hergestellt wird.“
CDU-Politiker fordert Eheöffnung
Der Dr. Jan-Marco Luczak, stellv. rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Berliner Abgeordneter freut sich über den Erfolg der Regierung, fordert aber weitere Schritte:
„Die Rehabilitierung ist ein wichtiger symbolischer Akt, um den Verurteilten späte Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. Mit der Aufhebung der Urteile wird der strafrechtliche Makel, der nach wie vor auf den Betroffenen lastet, endlich getilgt. Darin zeigt sich die Stärke unseres Rechtsstaats. ... Unter Führung der Union ist die rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften fast vollständig umgesetzt worden, jetzt sollten wir auch bei der Ehe diesen letzten Schritt gehen."
Kritik von Grünen, FDP und Linken
Auch die Grünen zeigten sich grundsätzlich erfreut über das Gesetz. Volker Beck und Katja Keul schrieben, dass den noch lebenden Opfern „endlich ein Stück Würde zurückgegeben" worden sei. Der Gesetzentwurf sei aber unzulänglich:
„Die Entschädigungsregelung ignoriert die soziale Existenzvernichtung, die Betroffene durch die bloße Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens erleiden mussten. Auch im Falle einer Einstellung eines Verfahrens oder bei einem Freispruch haben Betroffene oft ihr bürgerliches Leben, Wohnung, Beruf und sozialen Status verloren. Entsprechend müssten auch Berufs- und Rentenschäden berücksichtigt werden. Bislang bleiben diese aber leider außen vor. Hier muss der Bundestag nachbessern."
Die Grünen hatten seit 2008 insgesamt vier Gesetzentwürfe zur Rehabilitierung im Bundestag vorgelegt und waren damit Triebfeder für die Thematik.
Harald Petzold, queerpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag und Obmann im Rechtsausschuss fordert den Bundestag auf, das verabschiedeten Gesetz nun zügig zu beraten und fordert, wie Volker Beck, Nachbesserungen :
„Für das massive erlittene Unrecht der Opfer fordert DIE LINKE eine angemessene und gerechte Entschädigung. Deshalb treten wir für eine Individualentschädigung von 9.125 Euro und die Einführung einer Opferrente ein. Wir begrüßen ein pauschales und unbürokratisches Entschädigungsmodell, doch es braucht einen Härtefallfonds und muss Menschen mit einbeziehen, die nach Paragraf 175 zwar nicht verurteilt, aber durch dessen Ermittlungs- und Strafverfahren erheblich benachteiligt und belastet wurden. Wir fordern zudem eine Kollektiventschädigung, die die historische und gesellschaftliche Aufarbeitung des Unrechts ermöglicht wie auch aktuelle Maßnahmen gegen Homophobie und Transphobie.“
Aus der FDP meldete sich der Ortsverband des Berliner schwulen Kiezes Schöneberg ebenfalls grundsätzlich zustimmend zu Wort, fordert aber umfangreichere Nachbesserungen als Grüne und DIE LINKE. Sebastian Ahlefeld, Mitglied des Vorstandes der FDP Schöneberg:
„Insbesondere im Vergleich zu anderen Entschädigungszahlungen sind die beschlossenen Leistungen in Anbetracht des durch dieses menschenrechtswidrige Gesetz verursachten Übels der Höhe nach nicht angemessen. Daher fordern die FDP Schöneberg, die FDP Friedrichshain-Kreuzberg und weitere liberale Mitstreiter eine höhere Entschädigungszahlung, eine Opferrente, soweit sie im Einzelfall angemessen und notwendig ist, sowie die Berufung eines Beirates, der bei der Antragsbearbeitung individuelle Hilfe leistet und Antragsteller betreut."
Einen entsprechenden Antrag habe der Ortsverband bereits beim Landesverband eingereicht (hier downloaden).
Die Zustimmung zum Entschädigungsgesetz im Bundestag gilt als sicher.