Der Kater nach der Wahl ist verdaut, die neue Große Koalition aus CDU, CSU und SPD steht und hat ihren Fahrplan für die nächsten Jahre vorgelegt. Statt Aufbruchstimmung herrscht in der Queer-Community eher … nun ja, gedämpfte Erwartung. Nach Jahren, in denen eine Ampelregierung zumindest versucht hat, queere Themen auf die Agenda zu setzen (wenn auch oft zögerlich), weht jetzt ein anderer Wind. Der Koalitionsvertrag liest sich wie ein Dokument der Kompromisse, des Abwägens und – leider auch – des Stillstands in vielen für uns wichtigen Bereichen. Hilft ja nichts: Was steht drin, was fehlt schmerzlich und wo müssen wir als Community jetzt erst recht Druck machen?
Lichtblicke? Fehlanzeige oder doch ein Schimmer am Horizont?

Hinweis zu den Quellenangaben: Die Verweise im Text (z.B. „Quelle: KoV, Abs. X” oder „Quelle: LSVD+, Abs. Y”) beziehen sich auf die entsprechenden Abschnitte im Koalitionsvertrag (Koalitionsvertrag-2025.pdf, hier abgekürzt als „KoV”) oder in den LSVD+-Forderungen (lsvd-forderungen.pdf, hier abgekürzt als „LSVD+”). Die Zahlen geben die interne Abschnittsnummerierung in den bereitgestellten Dokumenten wieder und dienen der Nachvollziehbarkeit der Aussagen.
Fangen wir mit dem Positiven an, auch wenn die Liste sehr überschaubar ist. Immerhin: Die neue Regierung verpflichtet sich weiterhin, queeres Leben vor Diskriminierung zu schützen (Quelle: KoV, Abs. 1602, 3315). Ein grundlegendes Bekenntnis, das man in Zeiten erstarkender Rechter nicht kleinreden sollte. Aber eben auch sehr allgemein gehalten (Quelle: KoV, Abs. 3982-3984).
Konkreter wird es beim Selbstbestimmungsgesetz: Es soll bis spätestens Juli 2026 evaluiert werden (Quelle: KoV, Abs. 1605, 3320). Klingt erstmal nach Standardprozedur, aber der Teufel steckt im Detail. Der Fokus liegt explizit auf den Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, den Fristen und dem „wirksamen Schutz von Frauen” (Quelle: KoV, Abs. 1606, 3323). Hier riecht es verdächtig nach Einfallstoren für jene Kräfte, die das Gesetz von Anfang an torpedieren wollten. Wachsamkeit ist also angesagt! Immerhin: Die Rechte von trans* und inter* Personen sollen gewahrt bleiben (Quelle: KoV, Abs. 1605, 3321).
Auch im Gesundheitswesen soll es „geschlechts- und diversitätssensibel” zugehen, was explizit queere Menschen einschließt (Quelle: KoV, Abs. 1716, 3542). Der flächendeckende Zugang zur Gynäkologie und Geburtshilfe wird versprochen (Quelle: KoV, Abs. 1717, 3546) – wichtig für lesbische Paare und trans* Männer. Die Kostenübernahme bei Kinderwunschbehandlungen soll „angemessen und verlässlich” sein (Quelle: KoV, Abs. 1718, 3548), was Paaren Hoffnung machen könnte, auch wenn Details fehlen.
Beim Thema Hasskriminalität und Gewalt gibt es ebenfalls Bewegung: Der Schutz von Frauen und besonders verletzlichen Personen (inklusive Kindern und Menschen mit Behinderung) soll bei Mord, Körperverletzung und Raub verschärft werden (Quelle: KoV, Abs. 1408, 2919). Ein neues „Digitales Gewaltschutzgesetz” soll gegen Hass im Netz helfen und die Sperrung anonymer Accounts ermöglichen (Quelle: KoV, Abs. 1415, 2937). Auch wenn LSBTIQ* nicht immer explizit genannt werden, könnten diese Maßnahmen uns zugutekommen.
Die großen Lücken: Wo die neue Regierung kneift
Jetzt zum schmerzhaften Teil: Was fehlt? Vieles, was der LSVD+ und die Community seit Jahren fordern, findet sich im Koalitionsvertrag nicht wieder.
- Artikel 3 Grundgesetz: Die wichtigste Forderung, der explizite Schutz der sexuellen und geschlechtlichen Identität im Grundgesetz (Quelle: LSVD+, Abs. 1-8), wird mit keiner Silbe erwähnt. Ein fatales Signal und eine verpasste Chance, unser Grundgesetz „sturmfest” gegen rechte Angriffe zu machen.
- Aktionsplan „Queer leben”: Keine Rede von einer Fortführung des von der Vorgängerregierung initiierten Aktionsplans (Quelle: LSVD+,, Abs. 15-17). Auch das Amt des Queer-Beauftragten wird nicht erwähnt (Quelle: LSVD+,, Abs. 18). Die „Gleichstellungsstrategie” (Quelle: KoV, Abs. 1552, 3220) ist ein schwacher Trost.
- Regenbogenfamilien: Die dringend nötige Reform des Abstammungsrechts, um Zwei-Mütter-Familien gleichzustellen und nicht-binäre oder trans* Eltern korrekt anzuerkennen (Quelle: LSVD+,, Abs. 19-23), fehlt komplett. Auch die Möglichkeit der Mehrelternschaft Quelle: LSVD+,, Abs. 24, 80) oder die Legalisierung von Eizellspende und altruistischer Leihmutterschaft (Quelle: LSVD+,, Abs. 75-80) sind kein Thema. Ebenso fehlt eine klare Zusage zum diskriminierungsfreien Zugang und zur Kostenübernahme bei reproduktionsmedizinischen Leistungen (Quelle: LSVD+,, Abs. 24-26).

Die Linke queer reagierte schnell. Hier ihre Stellungnahme: Stillstand wäre besser gewesen: Diese Koalition lässt die queeren Communities am langen Arm verhungern
- AGG-Reform: Zwar soll der Diskriminierungsschutz gestärkt werden (Quelle: KoV, Abs. 1422, 2953), aber die vom LSVD+ geforderte umfassende Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) mit Verbandsklagerecht und Ausweitung auf staatliches Handeln (Quelle LSVD+, Abs. 26-29) ist nicht vorgesehen.
- Gesundheit (TIN*, Inter*, Konversion): Keine spezifischen Maßnahmen zur Verbesserung der Kostenübernahme für trans* Personen (insbesondere nicht-binäre) (Quelle: LSVD+,, Abs. 30-32), keine Schließung der Lücken im Operationsverbot bei inter* Kindern (Quelle: LSVD+,, Abs. 33-35) und keine Verschärfung des Konversionsschutzgesetzes (Quelle: LSVD+,, Abs. 57-62).
- LSBTIQ*-Geflüchtete: Hier weht ein eisiger Wind. Statt Schutzmaßnahmen im Rahmen der GEAS-Umsetzung (Quelle: LSVD+, Abs. 35-38) plant die Regierung die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte (Quelle: KoV, Abs. 1432, 2976), die Beendigung freiwilliger Aufnahmeprogramme (Quelle: KoV, Abs. 1431, 2973) und die Erweiterung der Liste „sicherer Herkunftsstaaten” um Länder wie Algerien, Marokko und Tunesien (Quelle: KoV, Abs. 1441, 1442, 2997, 2998), in denen LSBTIQ* verfolgt werden können (Quelle: LSVD+, Abs. 56). Ein eigenes Aufnahmeprogramm für LSBTIQ* (Quelle: LSVD+, Abs. 38-49)? Fehlanzeige. Die Forderung, LSBTIQ*-Verfolgerstaaten wie Ghana und Senegal von der Liste zu streichen (Quelle: LSVD+, Abs. 55), wird ignoriert.

LSVD+
Der LSVD+ kommentiert die Vereinbarung der neuen Bundesregierung ebenfalls:
Einigung auf Koalitionsvertrag durch CDU/CSU und SPD– LSVD⁺ warnt vor queerpolitischen Rückschritten
- Entschädigung: Die geforderte Entschädigung und Rehabilitierung für Betroffene menschenrechtswidriger Regelungen im alten Transsexuellengesetz (TSG) und §45b PStG (Quelle: LSVD+, Abs. 81-83) wird ignoriert.
- Demokratiefördergesetz: Statt eines strukturellen Gesetzes (Quelle: LSVD+ Abs. 13-15) soll nur das bestehende Programm „Demokratie leben!” fortgesetzt und evaluiert werden (Quelle: KoV, Abs. 1597, 1598, 3305, 3306).
Wo bleibt Raum für uns? Chancen für Community-Initiativen
Trotz der vielen Enttäuschungen gibt es Felder, in denen der Koalitionsvertrag vage bleibt oder Prozesse ankündigt. Hier muss die Community ansetzen:
- Evaluationen nutzen: Die angekündigten Evaluationen (Selbstbestimmungsgesetz, , Prostituiertenschutzgesetz, „Demokratie leben!”) müssen von uns kritisch begleitet werden. Wir müssen unsere Expertise einbringen und verhindern, dass sie als Vorwand für Rückschritte genutzt werden. Die Evaluierung des Cannabis-Gesetzes (Quelle: KoV, Abs. 1471, 2858) betrifft Teile der Community ebenfalls.
- Kommissionen beeinflussen: Kommissionen zur Finanzierung der GKV/Pflege (Quelle: KoV, Abs. 1624, 1685, 3358, 4004), zur Sozialstaatsreform (Quelle: KoV, Abs. 304, 2598), zur Gleichstellung/Lohngleichheit (Quelle: KoV, Abs. 1558, 3228) oder zur Überarbeitung der StPO (Quelle: KoV, Abs. 1071, 3365) müssen die spezifischen Bedarfe von LSBTIQ* (z.B. TIN*-Gesundheit, Diskriminierungsschutzauf) dem Schirm haben. Hier ist Lobbyarbeit gefragt.

Die Reaktion der queeren Liberalen LiSL
- Allgemeine Formulierungen füllen: Das Bekenntnis zum Schutz queeren Lebens oder zur „geschlechts- und diversitätssensiblen” Gesundheitsversorgung muss mit Leben gefüllt werden. Wir müssen konkrete Maßnahmen einfordern.
- Demokratieförderung einfordern: Auch wenn das Gesetz fehlt, müssen wir dafür kämpfen, dass queere Projekte im Rahmen von „Demokratie leben!” weiterhin (und besser!) gefördert werden.
- Hasskriminalität bekämpfen: Zwar sind Maßnahmen gegen digitale Gewalt geplant, doch die spezifischen Forderungen des LSVD+ nach einer bundesweiten Meldestelle und besserer Berücksichtigung queerfeindlicher Motive in der Rechtsanwendung müssen aktiv eingebracht werden.

Am späten Nachmittag des 10. Aprils erreichte uns auch die Stellungnahme der SPDqueer: Queerpolitik im Schatten: Kein Rückschritt, aber auch kein Fortschritt
- Rechte für Sexarbeitende: Die Evaluation des Prostituiertenschutzgesetzes bietet eine Chance, die Forderungen nach Entkriminalisierung und verbesserten Rechten in die Debatte einzubringen.
Auftrag: Ärmel hochkrempeln!
Der Koalitionsvertrag 2025 ist aus queerer Sicht bestenfalls durchwachsen. Wichtige Fortschritte der letzten Jahre werden – vorerst – nicht zurückgedreht, aber große, notwendige Schritte bleiben aus. Insbesondere das fehlende Bekenntnis zur Aufnahme des Schutzes der sexuellen und geschlechtlichen Identität in Artikel 3 GG ist ein herber Rückschlag. In Bereichen wie der Flüchtlingspolitik drohen , Verschlechterungen.
Geschenkt wird uns nichts. Die neue Regierungskoalition aus Union und SPD wird queere Anliegen nicht proaktiv vorantreiben. Umso wichtiger ist es, dass wir als Community laut bleiben, unsere Forderungen immer wieder stellen, die offenen Flanken im Koalitionsvertrag nutzen und bei den anstehenden Evaluationen und Kommissionen unsere Stimme erheben. Der Kampf für gleiche Rechte und gesellschaftliche Akzeptanz geht weiter – ganz sicher härter als zuvor. Packen wir’s an! *Christian Knuth