Elisabeth Biendl (37) ist Verwaltungsangestellte und macht eine Ausbildung zur Psychotherapeutin. Schon immer hatte die Münchnerin mit ihrem Körper zu kämpfen gehabt. Doch dass die Ursache der Probleme im körperlichen Merkmal inter* liegt, entdeckte sie erst vor wenigen Jahren. Jetzt engagiert sie sich vor allem für Frauen mit Ullrich-Turner-Syndrom.
Von der Medizin fordere ich, dass sie nicht länger im binären System verharrt. Ärztinnen und Ärzte sollen sich mehr am Patienten orientieren, sich stärker mit solchen Themen auseinandersetzen und weniger aus einer Position der Privilegiertheit agieren.
Wann hast du dich erstmals als inter* Person begriffen?
Den Begriff inter* habe ich erst vor etwa vier Jahren richtig kennengelernt. Ich bin über meine Kontakte zur LGBTI*Q-Community draufgekommen. Zuvor hat niemand dieses Wort in den Mund genommen, ich musste mir das Wissen selbst aneignen.
Gab es eine entsprechende Diagnose schon früher?
Im Prinzip, ja. Als ich zehn Jahre alt war, bin ich aus der Wachstumskurve gefallen und war mit 1,26 Metern viel zu klein für mein Alter. Bei der Genetikanalyse in der Hauner´schen Kinderklinik hat man dann festgestellt, dass mir ein X-Chromosom fehlt und kurze Zeit später das Ullrich-Turner-Syndrom diagnostiziert.
Das wiederum macht sich ganz unterschiedlich bemerkbar, unter anderem auch durch verlangsamtes Wachstum und irregulären Eintritt in die Pubertät, weil der Körper die Hormonproduktion nicht startet. Dass das eine Form von inter* ist, wussten weder ich noch meine Eltern.
Das Turner-Syndrom ist auch unter den Synonymen Ullrich-Turner-Syndrom (UTS) oder Monosomie X bekannt. Es ist eine bei Frauen auftretende angeborene Abweichung mit vielfältigen Symptommöglichkeiten. Anstelle von zwei Geschlechtschromosomen (XX oder XY) findet sich nur ein funktionsfähiges X-Chromosom in den Körperzellen.
Wie hast du auf die Diagnose anfangs reagiert?
Ich habe erstmal geweint. Dann stellte sich heraus, dass ich ohne Wachstumshormone vermutlich nicht größer als 1,46 Meter werden kann, also habe ich mir über mehrere Jahre täglich selbst Wachstumshormone gespritzt. Schlimmer als das war für mich allerdings die Estradioltherapie, deren körperliche Auswirkungen, wie die Gewichtszunahme und Menstruation, ich als massiven Eingriff in meinen Körper erlebt habe.
Hinzu kam, dass der zuständige Arzt gynäkologische Untersuchungen durchgeführt hat, welche nicht dokumentiert wurden und die nicht seinem Fachbereich (Endokrinologie/Genetik) entsprachen. Ich fühlte mich regelrecht missbraucht. Immerhin hat mir die Therapie aber eine relativ normale weibliche Entwicklung beschert.
Wie bist du heute eingestellt?
Ehrlich gesagt: Noch immer nicht ordentlich, das scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Das liegt zum einen an mir, denn ich hatte die Therapien über viele Jahre auf eigenen Wunsch abgesetzt. Mittlerweile bin ich wieder in Behandlung, höre aber von vielen Frauen mit Turner-Syndrom, dass kaum eine beschwerdefrei ist. Es ist eben eine seltene Krankheit, für die deshalb zu wenig Forschungsinteresse besteht. Ich habe einen lebbaren Zustand erreicht.
Als ich den Begriff inter* entdeckt habe, kam mir sofort der Gedanke, mich zu vernetzen und das Thema nach außen zu tragen.
Gibt es so etwas wie ein inter*-Coming-out?
Für mich schon. Ich hatte immer das Gefühl, anders zu sein, und habe mich daher immer mit anderen Gruppen solidarisiert, vor allem mit der queeren Community. Als ich den Begriff inter* entdeckt habe, kam mir sofort der Gedanke, mich zu vernetzen und das Thema nach außen zu tragen. Ich habe CSD-Kampagnen unterstützt und möchte einen Selbsthilfetreff auf die Beine stellen.
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Wo hast du Unterstützung gefunden auf dem Weg zu dir selbst?
Ich habe das Glück, ein persönliches Netzwerk aus guten Freunden zu besitzen, und war daher nicht auf professionelle Hilfe angewiesen.
Wenn du jemanden kennenlernst, der/die dich als Partner_in interessiert: Wie bringst du das Thema ins Spiel?
Ich sage es schon ziemlich früh. Zum einen, weil das Thema Familienplanung wichtig ist und ich mir oder dem Partner einen Kinderwunsch nicht erfüllen kann. Zu anderen, weil ich durch die andauernden Hormongaben psychisch belastet und auch körperlich beispielsweise durch eine Dauerblutung eingeschränkt bin.
Blöde Sprüche kommen übrigens auch aus der Turner-Community, wo viele Angst haben, als inter* Person in die LGBTIQ-Schublade gesteckt zu werden, was Unsicherheiten im eigenen Frausein triggern kann.
Was wünschst du dir von deinem Umfeld, von der Gesellschaft?
Ich gehe ja offen mit meinem inter* Dasein um und erlebe viel Interesse und Offenheit. Allerdings muss man sagen: Die Leute sind im Allgemeinen nur durchschnittlich informiert. Von denen, die ein Problem mit Inter haben, wünsche ich mir, dass sie einem zumindest aus dem Weg gehen. Blöde Sprüche kommen übrigens auch aus der Turner-Community, wo viele Angst haben, als inter* Person in die LGBTIQ-Schublade gesteckt zu werden, was Unsicherheiten im eigenen Frausein triggern kann.
Und welche Forderungen hast du an die Medizin?
Von der Medizin fordere ich, dass sie nicht länger im binären System verharrt. Ärztinnen und Ärzte sollen sich mehr am Patienten orientieren, sich stärker mit solchen Themen auseinandersetzen und weniger aus einer Position der Privilegiertheit agieren. Nicht zuletzt müssen sie eingehen auf Menschen, die durch ihre inter* Biografie medizinische Traumata erlebt haben, und das sind aus meiner Sicht 99 von 100, und den Blick über den Tellerrand ihrer eigenen Fachrichtung wagen.
Wie kann die Politik helfen?
Diese Grausamkeiten, die inter* Personen gerade im medizinischen Bereich noch immer erleiden, müssen endlich beendet werden. Dass die Politik dem neuen Gesetz im August 2021 zugestimmt hat, war schon ein super Schritt. Es gibt aber nach wie vor zu viele Ausnahmen, bei denen doch operiert werden darf. Hier muss man nachjustieren.
Hast du das Gefühl, die offizielle Einführung der weiteren Geschlechtszugehörigkeit „divers“ hat seit 2018 für mehr Akzeptanz in der Gesellschaft gesorgt?
Es sind eher kleine Schritte, mit denen es vorangeht. Immerhin haben jetzt viele von einem „diversen Geschlecht“ gehört und müssen sich damit auseinandersetzen, was zu mehr Akzeptanz führen kann. Den Riesen-Durchbruch hat das aber nicht gebracht.
Wird die Einführung des Genderns ein Schritt hin zu diesem Durchbruch sein?
Aus meiner Sicht, nein. Ich selbst bin gendersensibel, aber ich bin nicht die Genderpolizei. Ich habe das Gefühl, Gendern führt nicht zu mehr Miteinander, sondern zu mehr Auseinandersetzung. Deshalb gendere ich selbst nicht.
Interview: Bernd Müller
Übrigens ...
Cisgender lautet die Bezeichnung für Menschen, deren Geschlechtsidentität auch dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.
Das * (Gendersternchen) bezeichnet gleichzeitig Männer und Frauen, und zusätzlich auch alle anderen Geschlechteridentitäten.
Intersexualität liegt vor, wenn Menschen angeborene Geschlechtsmerkmale haben, die genetisch, hormonell und oder anatomisch nicht eindeutig in die Kategorien männlich oder weiblich passen.
Nichtbinär (auch: non-binär) bedeutet, dass man sich nicht in das herkömmliche, zweigeteilte Geschlechtersystem, also Mann und Frau, einordnen kann oder will. Ein anderes Wort dafür ist auch Genderqueer.
Der Begriff Transgender wird oft verwendet, wenn Menschen die ihnen von der heterosexuellen Norm zugewiesene Geschlechterrolle ablehnen.
Von Transsexualität oder Transidentität wird dann gesprochen, wenn sich Menschen nicht mit dem Geschlecht identifiezieren, in dem sie bislang gelebt haben.