Man sagt, die medikamentöse HIV-Therapie sei einfach geworden. Die Begleitung eines HIV-positiven Menschen, wenn man diesen ganzheitlich sieht, wird aber komplex bleiben. Auch wenn die Lebenserwartung von Menschen mit HIV unter funktionierender antiretroviraler Therapie annähernd vergleichbar ist mit derer ohne HIV, treten Krankheiten wie die des Herz-Kreislauf-Systems oder bestimmte Formen von Krebs in der HIV-Community häufiger und auch früher auf. Dr. Stefan Esser vom Universitätsklinikum in Essen leitet die seit mittlerweile 15 Jahren laufende HIV-HEART Aging Study, die untersucht, ob Menschen mit HIV anders altern als Menschen ohne HIV. Mit ihm haben wir über die Rolle von Inflammatorischen Prozessen, also chronische durch die HIV-Infektion ausgelöste Entzündungsprozesse im Körper, gesprochen.
Altern Menschen mit HIV anders als Menschen ohne HIV und welche Rolle spielen dabei durch das HI-Virus ausgelöste Entzündungsprozesse im Körper?
Die erste gute Nachricht ist ja die, dass Menschen mit HIV inzwischen dank der Therapie ein Altern ermöglicht wird. Wir haben daher auch erst jetzt die sozusagen erste Generation Menschen mit HIV, wo wir lernen können, wie es ist mit HIV zu altern. Es gibt zwei klare Unterschiede zwischen Menschen mit HIV, die behandelt sind, gegenüber Menschen ohne HIV: die HIV-Infektion selbst und die dauerhafte Einnahme einer Therapie. Beides hat möglicherweise Einfluss auf das Altern. Wir haben hier in Essen eine große Studie aufgelegt, in der wir seit über 15 Jahren Menschen mit HIV-Infektion beobachten, parallel dazu eine Studie in der Allgemeinbevölkerung.
Vorweg schicken möchte ich, dass wir vor allen Dingen sehen, dass wenn Menschen mit HIV nicht in Therapie kommen oder erst sehr spät im Rahmen der Infektion, dass das für die weitere Gesundheit erhebliche Nachteile ergibt. Also man zunächst mal sagen darf, dass die antiretrovirale Therapie eine deutliche Verbesserung der Gesundheit und auch der Lebensqualität bewirkt.
Es gibt verschiedene Erfolge, die man sich von einer Therapie wünscht. Der wichtigste Erfolg ist, dass man die Replikation des HI-Virus nachhaltig stoppt. Das heißt, es sind keine Viren mehr im Blut nachweisbar. Aber es gibt unterschiedliche Ausgangssituationen – deswegen habe ich das eben erwähnt.
Es gibt Menschen, die haben bei Therapiestart noch ein sehr gutes Immunsystem. Das erholt sich dann auch immer weiter. Selbst nach Jahren sehen wir noch eine Verbesserung der Immunparameter nach Einleitung einer antiretroviralen Therapie. Der Zustand des Immunsystems wird kontinuierlich besser, am Anfang besonders stark, später langsamer. Wir sehen aber auch, dass sich bei manchen Menschen das Immunsystem nicht so gut erholt, und wir sehen Menschen, die ein Immunsystem haben, das maximal aktiviert wird oder sehr stark aktiviert bleibt. Letztlich bleibt HIV doch eine in Anführungszeichen unerkannte Infektion im Körper des HIV-positiven Menschen und das kann dazu führen, dass das Immunsystem weiterhin hochgefahren bleibt. Das wiederum führt zu Inflammation, also zu Entzündungsprozessen im Körper. Früher war ich als HIV-Behandler in erster Linie Infektiologe, jetzt beschäftige ich mich auf einmal mit anderen Fragestellungen, wie sie z.B. auch in der Rheumatologie, also bei chronischen Entzündungsprozessen im Körper vorkommen. Diese können zur Erschöpfung und Ermüdung führen und damit auch das Altern beschleunigen.
Foto: Ed Uthman, MD Flickr.com, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia
Gibt es Unterschiede bei den Regimen in deren Einfluss auf die Entzündungsprozesse? Reicht es nicht aus dafür zu sorgen, die Viruslast unter der Nachweisgrenze halten?
Erstmal möchte ich wiederholen:
Jede konsequent eingenommene Therapie, die wirksam ist, macht ein riesen Vorteil gegenüber keiner Therapie oder einer nicht erfolgreichen.
Die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Substanzen ist extrem schwierig und vor allem dann „selection BIOS“: Wenn ich einen Patienten habe, der schon viele Interaktionen, viele Nebenwirkungen hat, dann bekommt der meistens eine sehr moderne oder einfache Therapie oder bestimmte Substanzen. Und das sind vielleicht besonders gute Substanzen, die gehen aber trotzdem mit viel mehr Erkrankung einher. Die sind aber nicht die Ursache, sondern sind wegen der Erkrankungen ausgewählt wurden. Wir machen ja keine prospektive Studie, in der wir randomisieren und sagen: Egal wie krank der Patient ist, der eine kriegt das, der andere kriegt das und dann gucken wir mal, was draus wird.
Die große Errungenschaft der modernen Therapie ist, dass wir sehr viele Auswahlmöglichkeiten haben.
Die Ärztin und Ärzte passen, gemeinsam im Gespräch mit ihrem Patienten, die Therapie permanent an und optimieren sie. Diese Auswahlmöglichkeiten individualisiert entsprechend der Erkrankung des Patienten finde ich wichtiger, als von vornherein zu sagen, die Substanz macht Nebenwirkungen und die anderen nicht. Wir haben dazu zwar sehr gute Studien, aber die liefen alle nicht so lange. Glücklicherweise machen viele Pharmaunternehmen inzwischen viel längere Studien als früher, weil wir jetzt auch eine lebenslange Therapie machen. Letztlich können uns diese Fragestellungen nur große Kohorten beantworten, gerade was diese Nebenwirkungen betrifft.
Was können Menschen mit HIV tun, um gesund zu altern?
Das hatte ich eben auch schon so ein bisschen beantwortet. Aus Behandlersicht auf jeden Fall die individuelle Abstimmung und immer wieder auf die Werte schauen. Und es ist noch einmal wichtiger, ein gutes Vertrauensverhältnis aufzubauen. Der Patient muss die Probleme ansprechen und den HIV-Arzt informieren. Es kann tatsächlich mit HIV assoziiert sein, oder aber mit anderen Faktoren zusammenhängen. Früher gab es viel mehr Wechselwirkungen und Komorbiditäten. Die modernen Therapien sind da schon deutlich besser als die alten. Ansonsten gilt: Sport machen, sich gesund ernähren und so weiter, ist natürlich für HIV-Patienten mindestens genauso wichtig wie für jeden anderen.