Frauen haben MigrĂ€ne, MĂ€nner RĂŒckenschmerzen. Das sind die wohl bekanntesten Formen von Schmerzerkrankungen mit ihrer klassischen geschlechtlichen Zuordnung. Was gerne als âZipperleinâ abgetan wird, ist in der RealitĂ€t ein wachsendes medizinisches und gesellschaftliches Problem: Wenn aus dem vermeintlichen Zipperlein chronische Leiden werden, hat dies unter UmstĂ€nden groĂe Folgen fĂŒr den Betroffenen, sein privates und sogar berufliches Umfeld.
Die Tagesklinik fĂŒr Schmerzmedizin des Wenckebach-Klinikums in Berlin bietet ein innovatives biopsychosoziales Behandlungskonzept, das wir uns vor Ort von OberĂ€rztin Dr. Friederike Taraz fĂŒr euch erklĂ€ren lieĂen.

Schmerzen drogen
Ist es richtig, von der Volkskrankheit chronische Schmerzen zu sprechen?
Die Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen sind viel hĂ€ufiger geworden. Im Gegenzug sind die Krankheitstage wegen körperlichen Beschwerden zurĂŒckgegangen. Das liegt nicht daran, dass Leute heutzutage körperlich gesĂŒnder sind, sondern weil die Betrachtungsweise eine andere geworden ist. Bei RĂŒckenschmerzen kann es z. B. eine psychische Diagnose geben, also eine chronische Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren. Unser Hirn ist plastisch. Es ist verĂ€nderbar. Man weiĂ bei chronischer Schmerzstörung gibt es eine Sender-EmpfĂ€nger-Störung. Der Auslöser ist dann kein akutes Problem, sondern oft die Erinnerung an alte Schmerzen und die Angst vor erneuten Schmerzen. So wird der Körper ĂŒberströmt vom GefĂŒhl chronischer Schmerzen.
Ab wann ist meine MigrĂ€ne chronisch und ich wĂ€re ein Fall fĂŒr diese Tagesklinik?
Eine chronische Schmerzstörung liegt vor, wenn man mehr als sechs Monate Schmerzen hat. Jemand hat eine körperliche Ursache wie z. B. Arthrose, Rheuma, die von Ihnen genannte MigrĂ€ne, Bandscheibenvorfall oder HĂŒftbeschwerden. In der Folge kommt es dazu, dass die alltĂ€glichen Aufgaben nicht mehr so gut bewĂ€ltigt werden und die Stimmung sich deshalb verschlechtert. Sozialer RĂŒckzug und die Entwicklung von ZukunftsĂ€ngsten können folgen: Wie soll es weitergehen mit dem Geld und dem Job? Behalte ich meine Stelle? Kann ich mich noch so um die Kinder kĂŒmmern, wie ich das gern möchte? Deshalb sprechen wir von einem psychosomatischen Krankheitsbild. Ausgehend vom Körper macht der Schmerz etwas mit der Psyche und das hat zusĂ€tzlich eine soziale Dimension. Wir versuchen, unseren Patient*innen ein biopsychosoziales Krankheitsmodell nahezubringen.

Alltagsstress
Also ist der Spruch âSchatz ich hab MigrĂ€neâ doch ein psychisches Problem?
Nein. Wie gesagt: Es liegt eine körperliche Ursache vor. Aber die Psyche hat darauf Einfluss, wie der Körper damit umgeht. Ein Beispiel: Jeder von uns kennt das: Wenn man wenig geschlafen hat, sich Ă€rgert und sich dann den FuĂ vertritt â das tut viel mehr weh, als wenn man gerade dabei ist, den Gipfel zu stĂŒrmen, an einem sonnigen Tag und zusammen mit den besten Freunden. Da merkt man es kaum. Die Schmerzwahrnehmung ist durch Stimmungen sehr beeinflussbar und bei chronischen Schmerzen ist das sehr komplex. Es sind viel mehr Menschen von chronischen Schmerzen betroffen, als man denkt. Diese kommen also nicht wegen der MigrĂ€ne hierher, sondern weil die Belastung durch diese körperliche Erkrankung gröĂer ist, als bei anderen. Die daraus entstehende Frage ist: Warum verselbststĂ€ndigt sich der Schmerz bei dem einen und bei dem anderen nicht? Warum entsteht bei dem einen aus Rheuma eine chronische Schmerzstörung und der andere hat ânurâ mit Rheuma zu kĂ€mpfen?
âUnser Ziel ist die Ermöglichung von Entstressung â durch Informationen, GesprĂ€che, gemeinsame Erlebnisse, Entspannungs- und Achtsamkeits- und BewegungsĂŒbungen, ErnĂ€hrungsumstellung und ein besseres VerstĂ€ndnis von sich selbst.âÂ
Welche ErklÀrungsansÀtze haben Sie denn zum Beispiel?
Ein wichtiger Punkt ist die Kindheit, in der der Mensch lernt, wie er mit Krankheiten und körperlichen Empfindungen und BedĂŒrfnissen umgeht. Jeder wird in seiner Familie und in seiner Zeit groĂ. Jeder macht also individuelle Erfahrungen und entwickelt Verhaltensmuster, nach denen er mit körperlichen Störungen umgeht. Mit diesen erlernten Mustern kommen die meisten gut zurecht. Allerdings gibt es auch Situationen, in denen neuartige EinflĂŒsse oder auch einfach zu viel gleichzeitig zusammentrifft, sodass diese Muster versagen. Dann schafft man es nicht mehr und greift zum Beispiel zur vermeintlich schnellen, medikamentösen Lösung nach dem Prinzip âist nicht so schlimm. Ich nehme einfach noch eine Tablette und gut ist.'
Und was wÀre besser?
Wir stellen uns mit unseren Patient*innen die Frage, wie wir einen Paradigmenwechsel erreichen können, wie die erlernten Muster infrage gestellt und erweitert werden können. Welche Verhaltens- und Behandlungsmöglichkeiten gibt es noch? Wir versuchen mit den Patient*innen hier in der tagesklinischen Therapie einen neuen Ressourcen-Rucksack zu packen. Keinen Notfall-Koffer im Sinne von: Es ist zu spĂ€t, das muss ich jetzt tun (die Schmerztablette nehmen zum Beispiel), sondern ein Paket von MaĂnahmen, die ich einsetzen kann, wenn erste Anzeichen dafĂŒr eintreten, dass es schwierig werden kann. Ein Inhalt dieses Rucksackes kann die ErnĂ€hrung sein. Wie könnte ich mich so ernĂ€hren, dass mein Gewicht im Rahmen ist und mein Skelett es tragen kann? Warum ist es sinnvoll, Obst und GemĂŒse zu essen? Warum sollte ich auf Koffein verzichten?
Sie kochen hier vegetarisch sehe ich. Ist das medizinisch besser?
Nein. Wir dĂŒrfen in diesem BĂŒrogebĂ€ude keine FleischabfĂ€lle produzieren. Bei der ErnĂ€hrung ist uns wichtig, dass die Patient*innen die GrundzĂŒge einer schmerzmodifizierenden ErnĂ€hrungsweise verstehen. Es ist sinnvoll, bei chronischen Schmerzen regelmĂ€Ăig zu essen â viel Obst, viel GemĂŒse, NĂŒsse und sich den Kaffee aufzusparen, wenn man MigrĂ€ne hat. Koffein ist ja ein gutes Therapeutikum und sollte nicht genutzt werden, um sich vermeintlich belastbarer zu machen.
âAls Ărztin denke ich oft: Wenn mein Patient mal nicht schlafen kann, weil er nicht weiĂ wie er die Miete bezahlen kann, dann braucht er einen Wohngeldantrag und keine Schlaftabletten! Wir haben auch eine fantastische Sozialarbeiterin.âÂ
Ich soll auf meinen Kaffee verzichten?
Viele trinken viel Kaffee. Wir haben immer wieder Patient*innen, die trinken morgens einen Kaffee direkt nach dem Aufstehen, und noch einen, wenn sie im BĂŒro ankommen. Im Laufe des Vormittags trinken sie noch einen Kaffee und dann noch einen im Laufe des Nachmittags und einen letzten Kaffee, wenn sie dann nach Hause kommen. Im Endeffekt können sie aber nicht oder schlecht einschlafen, weil sie zu dem Drittel der Bevölkerung gehören, die sehr koffeinsensibel sind und bei denen es bis zu 72 Stunden dauern kann, bis das Koffein abgebaut ist. Was macht man dann? Entweder man nimmt eine Schlaftablette oder trinke noch ein Bier. Dadurch ist die Schlafarchitektur gestört. Und was hilft, wenn man am nĂ€chsten Morgen zeitig aufstehen muss â ein Kaffee. Wie oft putscht man sich also mit Kaffee, obwohl der Körper eigentlich sagt: âEs ist genug!â Das heiĂt, wir sprechen darĂŒber, mal eine Woche keinen Kaffee zu trinken. Oft bekommt man als âEntzugserscheinungâ Kopfschmerzen, aber dann hat man es meistens auch schon ĂŒberstanden. Die Idee ist, dass die Patient*innen merken, wie oft sie Essen und /Trinken als Stimmungsmodifikation einsetzen.

Schmerz
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Neben Kaffee ist auch die Schmerztablette selbstverstÀndlicher Alltagsbegleiter vieler Menschen. Wie gehen Sie damit um?
Wir sprechen darĂŒber, wie mit Medikamenten umgegangen wird und welche Erwartungen der Einzelne diesen gegenĂŒber hat. âWenn ich eine Paracetamol nehme, bin ich den ganzen Tag schmerzfreiâ â das ist unrealistisch. Viele nehmen auch viel zu viele Schmerzmittel. Aus Angst vor Schmerzen wird zum Beispiel rein prophylaktisch zur Schmerztablette gegriffen. Andere dagegen nehmen keine Medikamente, obwohl es fĂŒr sie hilfreich wĂ€re. Der SchlĂŒssel ist das richtige Medikament, in der richtigen Dosierung, zum richtigen Zeitpunkt und mit den richtigen Indikationen. Genauso kann aber auch eine Ă€uĂere Anwendung hilfreich sein. Ob Kohlwickel bei einem entzĂŒndeten Gelenk, Lavendel zum Einschlafen oder Pfefferminz fĂŒr die SchlĂ€fen bei Kopfschmerzen â das hat keine Nebenwirkungen und ist fĂŒr viele sehr hilfreich. Als Ărztin denke ich oft: Wenn mein Patient mal nicht schlafen kann, weil er nicht weiĂ wie er die Miete bezahlen kann, dann braucht er einen Wohngeldantrag und keine Schlaftabletten! Wir haben auch eine fantastische Sozialarbeiterin. Das ist eine der wichtigsten Frauen im Team. Um das besser in die Konzeption unserer tagesklinischen Behandlung einzuordnen: Es gibt einen Therapieplan und darin jeden Tag Bewegungstherapie und auch Informations-, GesprĂ€chs- und Ăbungsgruppen von den Psycholog*innen, Ărztinnen und den Gesundheits- und Krankheitspflegerinnen.
Das ist wirklich umfangreich ...
⊠Ja. Ich versuche es weiter an Beispielen begreifbar zu mache, damit Ihre Leser*innen sich ein Bild machen können. Wir sprachen ja bereits kurz ĂŒber das gemeinsame Kochen hier in der groĂen offenen KĂŒche. Das wird von Gesundheits- und Krankenpflegerinnen begleitet und es werden AchtsamkeitsĂŒbungen ausgefĂŒhrt. Dabei beobachten wir ganz viel: Wer hat schon nach der ersten Kartoffel das GefĂŒhl, das ist mir schon zu viel? Wer schneidet alle Zwiebeln in Rekordzeit, wer hilft ĂŒberall mit, wer möchte keine Entscheidung darĂŒber fĂ€llen, ob etwas durchgekocht ist oder nicht? Und wer kann es genieĂen, wenn es gut schmeckt? Erkennbar sind fĂŒr uns Therapeut*innen Unter- und Ăberforderungen und Interaktion. Manche Patient*innen trauen sich nach dieser Therapie auch mal wieder, Leute zu bewirten wie z. B. Freunde oder Familie. Sie haben dann auch ganz andere Sachen zu erzĂ€hlen, wenn sie wieder in der Tagesklinik sind.
Warum ist dieses Haus nicht zum Beispiel in der Innenstadt im Vivantes?
Das ist ein groĂes Privileg. Dieses groĂe und unscheinbare BĂŒrogebĂ€ude, direkt am Teltowkanal mit Blick ins GrĂŒne. FĂŒr Patient*innen die mit KrankenhĂ€usern schlechte GefĂŒhle verbinden, egal ob in der Rettungsstelle, im OP, auf der Station oder bei Ărzten ist es hilfreich, dass hier nichts an ein Krankenhaus erinnert. Wir arbeiten eng zusammen mit der somatischen Abteilung bei Vivantes aber auch mit den niedergelassenen Ărzt*innen. Es gibt bei Vivantes ein MVZ fĂŒr Schmerzmedizin, das fĂŒr Medikation unsere kompetenten Ansprechpartner*innen besitzt. AuĂerdem sind unsere Gesundheits- und Krankenpfleger speziell geschult im Umgang mit chronischen Schmerzpatient*innen. Wir sehen uns als Wegabschnittsbegleiter und wollen unsere Patient*innen nicht abhĂ€ngig machen von Massagen oder einzelnen Therapeut*innen, sondern wir wollen, dass sie sich selbst die besten Ărzt*innen sind.
Wir sind auch selbst ganz gespannt bei wem, was hilfreich ist. Die Patient*innen bleiben zwischen sechs und zwölf Wochen in einer festen Gruppe in der Tagesklinik, sodass sie sich gut austauschen und kennenlernen können. Diese Vertrautheit ist hilfreich. Derzeit sind unsere Patient*innen zwischen 18 und 82 Jahre alt und aktuell mehr MÀnner als Frauen. Normalerweise ist es andersherum. Sie kommen aus allen Schichten und aus allen Lebenskonstellationen.
Wie kann ich mich hier anmelden?
Wer herkommen möchte, kann uns einfach anrufen oder ĂŒber unsere Homepage einen Termin vereinbaren. Als Erstes erfolgt das VorgesprĂ€ch. Wir möchten in Erfahrung bringen, warum sich Menschen genau jetzt bei uns melden. Was ist ihr Anliegen? Gern erzĂ€hlen wir, was unsere Arbeit ausmacht und schauen, ob es fĂŒr beide Parteien passt. Nach dem VorgesprĂ€ch folgt der physiotherapeutische Befund. Unsere Bewegungstherapeutinnen untersuchten die Patient*innen, um körperliche EinschrĂ€nkungen festzustellen. Oft sind diese gar nicht da, wo es wehtut. Das ist wie bei einer Lampe: Der Lichtschalter ist nicht da, wo es leuchtet.

Foto: Regina Sablotny
Vivantes Wenckebach-Klinikum â Tagesklinik fĂŒr Schmerzmedizin, 030130194824, schmerzmedizin.tk-wbk@vivantes.de, www.vivantes.de
Wie sind die Erfolgsaussichten?
Wir laden unsere Patient*innen nach drei Monaten noch mal ein, um zu sehen, was sich tatsĂ€chlich verĂ€ndert hat. Wir wissen, VerĂ€nderungen brauchen 100 Tage. Bekannt ist, dass der Bereich im Gehirn, der mit chronische Schmerzen eng zusammenhĂ€ngt, nahe dem Stresszentrum ist. Unser Ziel ist die Ermöglichung von Entstressung â durch Informationen, GesprĂ€che, gemeinsame Erlebnisse, Entspannungs- und Achtsamkeits- und BewegungsĂŒbungen, ErnĂ€hrungsumstellung und ein besseres VerstĂ€ndnis von sich selbst.
*Interview: Christian Knuth