Die meisten Männer haben es schon einmal erlebt, dass ihr Penis den Dienst verweigert. Und das muss nicht gleich medizinische Gründe haben. Wenn man starkem Stress ausgesetzt ist oder eine neue Liebesbeziehung entsteht, sind solche „Hänger" gar nicht so selten.
"Wer über einen längeren Zeitraum keinen hochbekommt, fühlt sich schnell nicht mehr als „richtiger Mann“
Dr. Dirk Stemper kennt beides: Medizin und Psyche. Über 20 Jahre war er als Internist und in Führungspositionen in unterschiedlichen Gesundheitsorganisationen tätig. Daneben arbeitete er als Psychotherapeut und Coach und leitet derzeit eine Privatpraxis für psychotherapeutische Medizin.
Hallo Herr Dr. Stemper. Man hört, dass psychologische Faktoren für etwa 10 bis 20 Prozent aller Fälle von erektiler Dysfunktion (ED) verantwortlich sind. Können Sie das bestätigen?
Sexuelle Funktionsstörungen sind in ihrer Symptomatik, ihrer Ausprägung und in ihren Ursachen sehr verschieden. Praktisch können in jedem Alter sexuelle Funktionsstörungen auftreten, die auf psychische oder körperliche Ursachen zurückgehen.
Ständerprobleme sind nur eine Form. In der Allgemeinarzt-Praxis haben 25–30 Prozent der Patienten sexuelle Funktionsstörungen, die über einen Monat anhalten. Dabei spielen emotionale und körperliche Erfahrungen in der Kindheit und Jugend, Sexualerziehung, kulturelle Normen und Sexualmoral, aber leider auch sexuelle Traumata als Ursachen eine Rolle.
Bei rund 70 Prozent der Männer mit erektiler Dysfunktion finden sich körperliche Ursachen, zumeist Krankheiten, vor allem in der Altersgruppe ab 50. Sonst sind seelische Gründe verantwortlich für die Impotenz, manchmal ist es eine Kombination aus beidem, denn psychische Probleme können körperliche Einschränkungen so weit verstärken, dass man überhaupt keinen Ständer mehr bekommt.
"Alle sexuellen Funktionsstörungen sind am Ende Erlebnisstörungen."
Das wiederum kratzt am männlichen Selbstbewusstsein und der Identität: Wer über einen längeren Zeitraum keinen hochbekommt, fühlt sich schnell nicht mehr als „richtiger Mann“ – so entsteht ein Teufelskreis. Alle sexuellen Funktionsstörungen sind am Ende Erlebnisstörungen.
Welcher Art sind diese Erlebnisstörungen?
Die psychischen Ursachen sind recht vielfältig. Zum einen können unmittelbare oberflächliche Gründe existieren, etwa Unkenntnis der eigenen Sexualität, mangelnde Erfahrung, falsche Vorstellungen durch Pornos oder oberflächliche Ängste.
"Falsche Vorstellungen durch Pornos oder oberflächliche Ängste."
Im Zusammenspiel der Ursachen finden sich aber bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die für primäre und sekundäre Erektionsstörungen unterschiedlich sind. Sekundäre Erektionsstörungen beruhen auf belastenden Lebensereignissen, deren emotionale Auswirkungen auf die Sexualität sich der Mann meist nicht bewusst ist und die durch Versagensangst zum Erektionsversagen führen. Dazu zählen Stress, Jobverlust oder auch die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen.
Zwar kann es auch bei sekundären Erektionsstörungen bedeutsame entwicklungsbedingte Ereignisse geben, doch spielen diese bei den primären Erektionsstörungen eine viel wichtigere Rolle. Bei den primären Erektionsstörungen verhindern früh angelegte Konflikte und Traumatisierungen die Herausbildung einer stabilen sexuellen Funktion. Sie treten ebenfalls in Form sexueller Versagensängste auf. Spätere belastende Ereignisse sind dann aber weniger wichtig.
Es klingt so, als wäre das alles stark miteinander verflochten.
Sexualität hat wichtige Funktionen für den seelischen Haushalt jedes Menschen und ist untrennbar auch mit Partnerschaft verwoben, egal ob Mr. Right oder Mr. Rightnow.
"Es gibt Konflikte um Status und Dominanz, Probleme mit Intimität, Vertrauen und Schwierigkeiten mit sexueller Attraktivität und sexuellem Verlangen."
Paarbezogene Störungsursachen können beim Betroffenen selbst liegen, in Form der genannten Ängste vor Sexualität, sie können aber auch direkt aus der Partnerbeziehung stammen, etwa durch Missbrauch der Sexualität als Machtmittel oder sexuelle Funktionsstörungen als Ausdruck einer Nähe-Distanz-Problematik.
Es gibt Konflikte um Status und Dominanz, Probleme mit Intimität, Vertrauen und Schwierigkeiten mit sexueller Attraktivität und sexuellem Verlangen.Zusammen mit den verbreiteten überhöhten Vorstellungen über sexuelle Leistungsfähigkeit erleben sich viele Betroffene in der Sexualität gefordert, unter Druck, nichts „falsch" zu machen und nicht zu versagen.
Gibt es Probleme, die speziell bei homosexuellen Männern auftauchen?
Bedingt durch Vorbilder aus der Sex-Industrie drehen sich, besonders bei jungen Schwulen, viele Probleme um die Selbstwahrnehmung und das Selbstwertgefühl. Der eigene Schwanz ist nicht groß genug, man hat nicht lange genug, nicht oft genug Sex. Fast jeder Porno ist bestückt mit Jungs oder Männern, die ausdauernd und muskelbepackt ständig und lange blasen und f*cken. Vorspiel und Kuscheln danach kommen nicht vor oder sind nebensächlich.
„Aufgrund fehlender sexueller Erfahrung können völlig unrealistische Vorstellungen von Sex und Intimität entstehen.“
Laut wissenschaftlichen Studien kann übermäßiger Pornokonsum zu einem verzerrten Bild von Sexualität führen. Dabei kommen Jungen durchschnittlich mit 14 Jahren mit pornografischen Inhalten in Berührung. In dem Alter können aufgrund fehlender sexueller Erfahrung völlig unrealistische Vorstellungen von Sex und Erwartungen an den eigenen und fremden Körper und Intimität entstehen.
"Wenn das Coming-out nicht gelingt, kann das erhebliche Folgen für die Fähigkeit zu sexuellem Genuss haben, bis hin zur vollständigen sexuellen Verweigerung oder auch körperlichen Störung."
Je nachdem, wie gut das Coming-out ankommt, fehlen auch Möglichkeiten, mit Gleichaltrigen über Sex zu sprechen. Auf dem Land ist das sicher oft schwieriger. Ohnehin wollen aber nur rund vier Prozent von Porno-Konsument*innen, unabhängig von der eigenen sexuellen Ausrichtung, auch wirklich über das reden, was sie gesehen haben.
Über die Hälfte tut genau das nie. Die Folgen sind offensichtlich: fehlender emotionaler Austausch, toxische Vorstellungen von Männlichkeit, Sexismus und ein zunehmend unsicheres Verhältnis zum eigenen Körper.
Ein anderes „schwules“ Thema ist Selbstakzeptanz. Kaum ein Schwuler, kaum eine Lesbe ist irgendwann eines Morgens aufgewacht und hat sich gesagt: Ab heute bin und lebe ich homosexuell. Zumeist im Pubertätsalter, bei manchen früher, bei vielen auch erst später, wird der junge Mann, die junge Frau sich bewusst, dass irgendetwas „nicht stimmt“, „anders“ ist.
Zumeist ist das der Anfang einer langen, auch jahrelangen Suche nach sich selbst. Mit immer wieder aufkommenden Fragen wie: „Warum gerade ich? Weshalb bin ich so? Was kann ich dagegen tun?“ Nicht selten ist auch der Versuch zum Scheitern verurteilt, doch so zu sein wie die anderen.
Wenn das Coming-out nicht gelingt, kann das erhebliche Folgen für die Fähigkeit zu sexuellem Genuss haben, bis hin zur vollständigen sexuellen Verweigerung oder auch körperlichen Störung.
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Ein weiteres Ständerproblem sind Drogen. Von Drogenkonsum kann der Schwanz schrumpfen, nicht nur auf Kaltes-Wasser-Größe, sondern so, dass man ihn nur noch mit Daumen und Zeigefinger anfassen kann. Durch die Kriminalisierung von Drogen gibt es aber auffallend wenig wissenschaftliche Untersuchungen.
Man muss mit Pharmakologie und anekdotischem Wissen von Patienten arbeiten. Doch ich denke, dass es bei Drogen wie Kokain, Ecstasy und Crystal Meth sehr negative Auswirkungen auf die Potenz gibt. Die Drogen verengen die Gefäße. Dadurch kann sich der Schwanz zurückziehen oder komplett nutzlos werden. Schwule probieren dann, den Drogen einen Strich durch die Rechnung zu machen, etwa mit Kamagra und Co.
„Die Angst vor dem Alleinsein kann bei schwulen Männern die Sexualität zusätzlich einschränken.“
Das letzte Thema, das bei Schwulen häufiger auftaucht, sind Erektionsstörungen im Zusammenhang mit dem Alter. Körperliche Veränderungen stellen für alternde Männer häufig ein Problem dar, da sie häufig mit bestimmten Vorstellungen und Symbolen von Männlichkeit verbunden werden.
Zugleich wird die Bedeutung von Sex für das eigene Selbstkonzept im Alter nicht unbedingt geringer – die Akzeptanz auf dem „Meat Market“ allerdings schon. Die Angst vor dem Alleinsein kann bei schwulen Männern die Sexualität zusätzlich einschränken.
Wie gehen Sie mit solchen Problemen um?
So vielseitig wie die psychischen Ursachen muss natürlich auch die Vorgehensweise sein. Die Erektionsstörung muss nach verschiedenen Kriterien eingeordnet werden. Zu unterscheiden ist nach
- Beginn (primär/ sekundär, plötzlich eintretend oder schleichend)
- Schweregrad (immer oder nur in bestimmten Situationen) und nach
- Verlauf.
Körperliche Erkrankungen müssen in der Hausarztpraxis ausgeschlossen werden. Dazu gehören auch Laboruntersuchungen von Testosteron, SHBG, Prolaktin, LH, FSH und TSH. Bei entsprechenden Hinweisen muss eine Untersuchung beim Urologen oder Andrologen folgen.
Zunächst ist zu klären, ob die Ständerprobleme im Zusammenhang mit anderen psychischen und psychosomatischen Störungen, etwa Depressionen, Angststörungen oder Persönlichkeitsstörungen, auftreten. Bestehen neben den sexuellen Funktionsstörungen noch weitere psychische oder psychosomatische Störungen, haben diese Vorrang vor der symptomorientierten Sexualtherapie. Dann sind psychotherapeutische Maßnahmen angezeigt.
Bei der weiteren Abklärung geht es um die sexuelle Vorgeschichte, urologische Vorerkrankungen, Kinder- und Geschlechtskrankheiten, Medikamente, psychosoziale Situation und Partnerschaft.
„Hemmungen und viele Vorstellungen müssen ebenso abgebaut werden wie Fehleinschätzungen des sexuellen Verhaltens und Erlebens.“
Wichtig ist, dass Ratsuchende zum Abschluss dieses Klärungsgesprächs ausreichend Informationen zur sexuellen Funktionsstörung, zur Beurteilung der Störung und weiteren diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten erhalten.
Unabhängig von den Ursachen kann jeder erektionsgestörte Patient von einer kompetenten Sexualberatung profitieren.
Dabei werden sexuelle Ängste, Wünsche und Fantasien geklärt. Es geht außerdem um Vermittlung von Kenntnissen zu Grundlagen der Sexualität. Hemmungen und viele Vorstellungen müssen ebenso abgebaut werden wie Fehleinschätzungen des sexuellen Verhaltens und Erlebens.
Abbau von Versagensängsten, Leistungsdruck, negativen Erwartungen, ablenkenden Gedanken, ungünstige Partnerinteraktionen oder mangelnder Stimulation führt bereits zu einer weitgehenden Verbesserung der Erektionsstörung. In anderen Fällen ist es notwendig, tiefer liegende Faktoren zu bearbeiten, die der Symptomauflösung im Wege stehen. Gespräche ermutigen zur Veränderung sexueller Einstellungen und Verhaltensweisen.
In meiner Praxis geht es um effektive, langfristig wirksame, vom Betroffenen und seinem Partner akzeptierten Behandlungsmöglichkeiten. Thema ist nicht nur die Erektion, sondern die sexuelle Zufriedenheit oder die „sexuelle Gesundheit“.
Dr. Dirk Stemper
Psychologie Halensee
Psychotherapie | Beratung | Coaching
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