
Foto: Salzgeber
Misericordia
Schon lange gehört Alain Guiraudie zu den spannendsten schwulen Regisseuren des französischen Kinos. Spätestens der außergewöhnliche Erotikthriller „Der Fremde am See“, der 2013 in Cannes mit dem Regie-Preis und der Queer Palm ausgezeichnet wurde, machte ihn auch international bekannt. Nun legt der 60-Jährige mit „Misericordia“ (ab 6.3. im Kino) seinen neuen Film vor – und findet in der Geschichte eines Mannes, der anlässlich der Beerdigung des Vaters seines früheren Schulfreundes in sein Heimatdorf zurückkehrt, auch endlich mal wieder Platz für schwulen Sex. Wir trafen ihn in Paris zum Interview.
Monsieur Guiraudie, Ihrer neuer Film „Misericordia“ handelt – wie der Titel verkündet – von Barmherzigkeit, aber auch von sexuellem Begehren; er ist Thriller und Dorf-Drama gleichermaßen, von Hitchcock genauso inspiriert wie von Pasolinis „Teorema“. Womit nahm diese ungewöhnliche Geschichte ihren Ursprung? Das lässt sich im Rückblick gar nicht so genau sagen. Es ist nie so, dass ich eine einzelne Idee habe, die ich zu Papier bringe und mit der dann alles anfängt. Meine Arbeitsmethode ist eher eine, wie sie auch der Schriftsteller Michel Houellebecq mal beschrieben hat. Ich knete in meinem Kopf verschiedene Ideen und Zutaten so lange, bis sich irgendwie ein geschmeidiger Teig zu formen beginnt. Erst dann setzte ich mich überhaupt hin und beginne zu schreiben.
Dann fragen wir mal so: was waren die wichtigsten Zutaten? Natürlich waren die Figuren entscheidend. Nicht nur den Protagonisten Jérémie hatte ich früh im Kopf, auch andere Personen, die in diesem Dorf leben, wo die Geschichte spielt. Aber vielleicht könnte man sagen, dass das Dorf selbst das war, was als erstes durch meine Gedanken spukte. Gepaart mit Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend, die dann im Laufe der Drehbucharbeit unterfüttert wurden mit Einflüssen aus Filmen und Roman, die mich über die Jahre inspiriert haben.
Sie haben „Misericordia“ aber nicht in dem Dorf gedreht, in dem Sie aufgewachsen sind, oder? Nein, das nicht. Ich hatte beim Schreiben verschiedene Dörfer im Kopf, das, in dem ich groß wurde, aber auch einige, in denen meine Freunde wohnten. Gedreht haben wir dann in Sauclières, was zwar im gleichen Département, aber doch eine Ecke weiter weg liegt.
Gerade erwähnten Sie Erinnerungen an Ihre Jugend, die die Geschichte des Films inspiriert haben. Welche genau meinen Sie denn, wenn diese direkte Frage gestattet ist? Zum Beispiel habe ich viel darüber nachgedacht, wie oft man als Teenager, beim Erwachen der Pubertät, plötzlich Vater oder Mutter des besten Freundes als sexuelles Wesen wahrnimmt und womöglich ein sehr besonderes Verlangen nach ihnen entwickelt. Solche Gefühle stehen im Kern von „Misericordia“. Auch die Rangeleien, Prügel und Kämpfe, in die Jérémie immer wieder verstrickt ist, sind etwas, das natürlich sehr an die Leben- und Emotionsrealität von Jugendlichen erinnert. Und nicht umsonst erinnert die Welt des Films in vielerlei Hinsicht mehr an die Siebziger Jahre, in denen ich groß wurde, als an unsere heutige Gegenwart.
Es geht nicht nur um Gefühle für anderer Leute Eltern, sondern allgemein um unterdrückte Begierden und das Unglück, das aus ihnen erwächst. Sollte man daraus die Lehre ziehen, dass wir alle glücklicher wären, wenn wir immer sagen, was wir fühlen? Nein, nein, das wollte ich mit dieser Geschichte auf keinen Fall sagen. Ich bin in einer Zeit und an einem Ort aufgewachsen, wo nicht viel Worte verloren wurden über Emotionen und Sehnsüchte. Ist es heute da draußen so viel anders? Vermutlich nicht, denn nur weil die Menschen auf Facebook ihren Gedanken ungefiltert freien Lauf lassen, heißt das noch lange nicht, dass da wirklich ihre innersten Begierden zutage treten. Ich denke, es hat schon seinen Sinn, dass es gewisse Tabus gibt und man nicht immer alles sofort ausspricht. Oder zumindest schützt uns das kaum vor unserem Unglück.
Ausgerechnet der Priester geht hier jedenfalls am offensten damit um, was er will, obwohl er ja eigentlich am meisten zu verbergen hätte … Die Kirche ist ja gerade auf dem Land immer schon ein Zufluchtsort war für homosexuelle oder auch asexuelle Männer gewesen, die sich außer Stande sahen, den traditionellen gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen und eine Familie zu gründen. Als Figur in einem kleinen Provinzdorf fand ich einen Priester deswegen besonders reizvoll, auch weil ich ihn ihm das körperliche mit dem eher spirituellen Verlangen vereinen konnte. Als homosexueller Priester weiß er ja mehr als alle anderen Figuren in dieser Geschichte, was es bedeutet, das eigene Begehren nicht auszuleben und ohne Gegenleistung zu lieben.
Was die sexuelle Orientierung oder Identität Ihres Protagonisten Jérémie angeht, bleiben Sie bewusst vage. Warum? Weil ich weder die Notwendigkeit sehe, dass wir Begehren und Liebe immer mit irgendwelchen Labels versehen, noch das Gefühl habe, ich müsste meinem Publikum jede Kleinigkeit erklären. Hatte Jérémie wirklich eine Freundin, von der er sich getrennt hat? Wie genau sah in der Jugend die Beziehung zu seinem besten Freund aus? Was empfindet er für dessen Mutter? All diese Fragen zu beantworten wäre doch langweilig. Auch den Schauspieler*innen wollte ich diese Ambiguität nicht nehmen. Ich glaube, es ist für alle Beteiligten reizvoller, sich mit den Fragen zu beschäftigen als die Antworten zu kennen.
Ihr Hauptdarsteller Félix Kysyl ist eine echte Entdeckung. War es schwer, den richtigen Schauspieler für diese Rolle zu finden? Oh, ja, das kann man wohl sagen. Ich habe mir sehr viele Schauspieler angesehen, denn diese Rolle ist verdammt komplex. Gerade weil vieles so vage und ungeklärt ist, was seine Gefühle und Beweggründe angeht. Ich brauchte jemanden, der gleichzeitig wie der liebe, nette Junge von nebenan, aber auch wie ein emotionslos heuchelnder Serienkiller wirken konnte. Félix begeisterte mich dadurch, dass er sowohl die engelsgleiche als auch die teuflische Seite der Figur zum Vorschein bringen konnte. Und dabei mit seinen 33 Jahren geradezu alterslos wirkte. Man hätte ihm den Teenager genauso abgenommen wie einen mitten im Leben stehenden Erwachsenen. Mit seiner Stimme und seinem Körper erweckte er Jérémie noch sehr viel nuancierter zum Leben, als ich mir das auf dem Papier hätte ausmalen können.
*Interview: Patrick Heidmann
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