Man muss Zeit finden, ein Leben zu leben.
Foto: Semuel Souhuwat
My Indigo
Vor allem, wenn man 22 Jahre lang nur einen Job ausübt. Selbst wenn man Sharon den Adel heißt und die Frontfrau von Within Temptation ist. „Alles was ich getan habe, ist arbeiten – auch wenn es sich bei mir gar nicht wie Arbeit anfühlt, auch wenn es meine Leidenschaft ist.“ Neues Album, neue Tour, neue Lieder schreiben – ein endloser Zyklus. Doch als es Zeit war, nach dem letzten Werk „Hydra“ wieder kreativ zu sein, kam einfach nichts. Absolute Leere. „Es hat nicht funktioniert. Du kannst Musik einfach nicht den Weg vorgeben, sie kommt, wie sie kommt.“ An dem Punkt hätte man auch alles hinschmeißen können, oder – wie in ihrem Fall – sich wieder ganz darauf konzentrieren, Mode zu designen. Aber das war ihr nicht möglich, sie musste es weiter probieren: „Musik ist das Werkzeug, das mir dabei hilft, mit dem Leben umzugehen.“
Trotzdem brauchte sie erst einmal Zeit für sich. „Ich machte mir neue Erinnerungen, anstatt mich nur auf die alten zu verlassen.“ So viele Gespräche liefen bis dahin nur nach dem Motto: Erinnerst du dich, damals, vor zwanzig Jahren … „Obwohl alle immer sagen, mach dir keine Gedanken, wenn wir uns ein Jahr nicht sehen – wenn wir uns treffen, haben wir immer eine gute Zeit. Das gibt mir natürlich ein gutes Gefühl. Doch auf der anderen Seite …“ Sie begann sich also bewusst auf die besonderen Menschen in ihrem Leben zu konzentrieren, sie schuf viel Raum für Freunde, für Familie. „Es war wie eine Instandhaltung der Seele“, beschreibt sie es. Und als dann plötzlich wieder neue Lieder aus ihr kamen, haben diese sie selbst überrascht, denn diese Songs hatten nichts mit dem symphonischen Metal ihrer Band zu tun – es waren Popstücke. „Ich musste verletzbarer sein, näher an mir selbst, nicht so episch und groß und enorm. Ich musste mehr darauf achten, was ich wirklich fühle. Es sind leichte Lieder, aber die Texte gehen tiefer und bewegen hoffentlich.“
Das Album existiert deshalb in einer komischen Situation: Alten Fans mag es vielleicht nicht gefallen, weil es zu weit weg ist vom Klang, den sie lieben, und diejenigen, denen es gefallen könnte, werden womöglich zögern, es zu hören, weil sie Within Temptation nicht besonders schätzen. Dabei ist das Album, das Sharon als My Indigo veröffentlicht, etwas völlig Unabhängiges und Eigenes. „Es ist viel drin aus der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, viel Musik aus den 80ern und 70ern – aber auch aus der Popmusik des Jetzt.“ So oder so hat sie es damit geschafft, den Knoten in sich zu lösen, und mittlerweile arbeitet sie schon wieder mit Within Temptation im Studio, obwohl sie gleichzeitig noch dabei ist, die letzten Songs für My Indigo zu mixen. „Es ist gerade ein bisschen schizophren“, lacht sie. „Aber es sind ja beides Seiten meines Selbst.“ Es wird also ein wildes, aufregendes Jahr, in dem sie ihr Leben so managen muss, dass genug Raum bleibt, es auch zu leben. Neue Erinnerungen wird sie auf jeden Fall gewinnen.
My Indigo: „My Indigo“, VÖ: 20. April