Am 8.8.1988, abends um 8 Uhr 8 nahm mitten auf der Reeperbahn eine Geschichte ihren Anfang, deren Erfolg damals wohl nicht einmal die beiden Akteure der reisenden Theatergruppe Familie Schmidt, Ernie Reinhardt alias Lilo Wanders und Corny Littmann vorausgeahnt haben.
Des Reisens müde geworden eröffnete also das Schmidt Theater an diesem Abend erstmals hier. Zu Beginn wurde das Theater belächelt, entwickelte sich dann aber rasant zu einer erfolgreichen Talentschmiede (Georgette Dee, Marlene Jaschke und viele weitere verdienten sich an dieser Bühne erste Bühnenerfahrung) und zu einem Ort kreativen Theaterschaffens in einem fast schon tot geglaubten Metier: dem Volkstheater. Heute, erweitert um das Schmidts Tivoli und zahlreiche gastronomische Betriebe und inzwischen ansässig in einem rot schillernden Neubau, ist das Schmidt Theater mit Abstand das erfolgreichste Theater Deutschlands und ist zu 100 Prozent privat finanziert.
CORNY LITTMANN: WIE ALLES BEGANN
Genau wie das Schmidts TIVOLI war auch das Gebäude, in dem das alte Schmidt Theater seine Heimat hatte, eigentlich gar nicht als Theater konzipiert worden. In den 50er Jahren war hier einer dieser typischen Flachbauten hochgezogen worden, um die baulichen Lücken, die der Krieg hinterlassen hatte, schnell und zweckmäßig zu schließen. Ursprünglich beherbergte das Gebäude am Spielbudenplatz 24 die Union-Lichtspiele, aber in den 70er Jahren fielen diese dem allgemeinen Kino-Sterben zum Opfer. Neuer Mieter wurde Bruno Koschmieder, eine Kiez-Größe, der dort dann den Kaiserhof eröffnete eine Tanzhalle für Jung und Alt, eine Art Café Keese im Kleinformat. Anfang der 80er jedoch liefen die Geschäfte wohl immer schlechter, jedenfalls war von Koschmieders einstigem Imperium nur noch der Kaiserhof übrig. Er selbst wohnte im ersten Stock und legte am Wochenende die Platten auf. Aber auch das wurde seltener und eines Tages, Anfang 1988, prangte ein Schild im Eingang: Zu vermieten!
Ich kannte das Tanzlokal von einem einmaligen Besuch: rotplüschige Bestuhlung und der Charme eines reichlich heruntergekommenen Etablissements. Zu diesem Zeitpunkt waren Ernie Reinhardt alias Lilo Wanders und ich des Reisens müde, nachdem wir jahrelang als Familie Schmidt nicht unerfolgreich von Bühne zu Bühne durch deutsche Lande gezogen waren. In Hamburg waren wir damals die bekannteste freie Theatergruppe warum es also nicht wagen, eine feste Spielstätte zu gründen? Wir hatten damals schon unkonventionelle Stücke aus Musik, Theater und Comedy: schrill, schräg, Tabus gerne überschreitend und Männer im Fummel ein Vorläufer also des späteren typischen Schmidt-Theater-Stils. Und nun stand ein Gebäude in dem Stadtteil leer, in dem wir schon längere Zeit lebten und in dem wir uns zu Hause fühlten und immer noch fühlen. Also zugreifen, auch wenn Freunde wie der NDR-Kollege Friedhelm Mönter dem Projekt damals nur ein halbes, maximal ein Jahr gaben. Andere sprachen von Größenwahnsinn und das war sogar noch eines der netteren Komplimente, die wir bekamen.
Die Vorzeichen waren damals tatsächlich nicht gut. Helga Feddersen war gerade mit ihrem Privattheater Pleite gegangen, das übrigens nur einen Kilometer vom Kaiserhof entfernt lag, und wenn die berühmte Feddersen es schon nicht schaffte, wie dann diese relativ unbekannte Familie Schmidt? Dennoch wollten wir unbedingt ein Theater eröffnen, genauer gesagt, ein Verzehrtheater im Stil der Varieté-Theater der 20er Jahre, aber mit zeitgemäßem Bühnenprogramm ein modernes, freches Volkstheater. Die erste Euphorie verflog, als wir nach dem Unterschreiben des Mietvertrages näher hinsahen. Alles war unglaublich marode, eine Bruchbude könnte man sagen. Mit den beiden zu uns ins Boot geholten Gastronomen Mario Rispo und Sture Salomon kratzten wir alles verfügbare Geld zusammen und machten uns an die Renovierung. Das war schon ein komisches Bild, als wir Tunten eigenhändig mit dem Hammer in der Hand die alten Separees zertrümmerten und den Schutt rausschaufelten. Aber bei der Elektrik hat unser Können dann versagt, das Haus war ein einziger lebensgefährlicher Kabelsalat mit offenen Leitungen. Außerdem bemerkten wir, dass der schlitzohrige Vormieter den gesamten Strom vom Nachbarhaus abzapfte, einem Herrenpuff, der von zwei Lesben geführt wurde. Mit der aufwendigen Instandsetzung ging uns das Geld für die Saaleinrichtung aus und wir mussten die alten roten Samtsessel und -sofas vom Kaiserhof übernehmen. Wir hatten natürlich keine Ahnung, dass die einmal zum Markenzeichen werden könnten. Ein anderes Markenzeichen, aber eher für die Künstler, die bei uns auftraten, wurde, dass wir damals auch aus Geldmangel keine Toilette mehr auf der Hinterbühne für die Künstler einbauen konnten. Wer mal musste, musste durch den Zuschauerraum. Der Kollege Friedhelm Mönter erzählt immer noch gerne die Geschichte, wie er dem Himbeergeist verzehrenden Ex-UFA-Star Ilse Werner einen Metalleimer unter den Rock halten musste, weil sie nicht mehr durch den Saal kam. Aber auch vor der Tür war es zu der Zeit noch recht unansehnlich. Die Flachbauten waren zur Hälfte nicht bewirtschaftet und abends kamen die Junkies und tauschten Fernseher gegen Drogen. Nicht der beste Standort für ein Theater. Das St. Pauli Theater und das Operettenhaus mit Cats an den beiden Kopfenden hatten es besser, die standen außerhalb der dunklen Zone.
Foto: Stefan Malzkorn
Corny Littmann
Der Eröffnungstermin am 8.8.88, abends um 8 Uhr 8 war eher zufällig gewählt. Wir mussten aus Geldnot schnell aufschließen, auch wenn eine Theatereröffnung in den Hochsommer zu legen eigentlich schwachsinnig ist. Und so war es auch brüllend heiß, wir hatten natürlich keine Klimaanlage und der Schweiß in dem überfüllten Haus floss in Strömen. Im Foyer saß Gunter Schmidt wie ein Goldrauschengel auf der Bar und schnitt auf einer Harfe hartgekochte Eier, die er den Gästen zum Essen reichte. Die damalige Kultursenatorin Helga Schuchardt, die immerhin zur Eröffnung kam, war leicht irritiert von den Neuen in Hamburgs Theaterlandschaft. Die erste größere Panne stellte sich auch sofort ein: Ernie und ich wollten ein rotweißes, vor den Vorhang gespanntes Flatterband, wie es für Absperrungen verwendet wird, durchschneiden. Damit es nicht durchhing, hatten wir es mit einem Gummiband von hinten verstärkt, welches sich nun aber mit einer etwas stumpfen Schere einfach nicht durchschneiden ließ. Aus der Aktion wurde ein fünfminütiger unfreiwilliger Sketch bis wir das Band endlich durchgeschnitten hatten. In den ersten vier Wochen spielten wir dann Sag bitte und ich sing zusammen mit Georgette Dee und Terry Truck, das auch dank unseres Hamburger Stammpublikums der Familie Schmidt immer recht gut gefüllt war. Unsere Mitternachtsshow mit ihrem wirklich gnadenlosen Varieté-Programm, die auch gerne mal bis morgens um halb fünf dauern konnte, entwickelte sich schnell zu einem Geheimtipp. Da wir keinen Vorverkauf machten und die Karte an der Abendkasse nur fünf Mark kostete, standen die Schlangen irgendwann bis zur Davidwache. Bei der Show Blaue Jungs, die wir im Eröffnungsjahr auch noch auf die Schmidt-Bühne brachten, trat zum ersten Mal eine gewisse Marlene Jaschke auf. Sie hatten wir in der legendären Tresenshow entdeckt, bei der unterschiedlich talentierte Menschen Kostproben ihres künstlerischen Könnens darboten. 1989 begeisterte sich dann ein Team der NDR-Unterhaltungsredaktion für das Schmidt Theater genauer: für die Location, nicht für die Macher. Damals hatten alle dritten Programme ihre eigene Unterhaltungsshow und der NDR plante seine mit Ingolf Lück. Wir erklärten, dass das Theater aber nun mal Schmidt und nicht Lück hieße und machten den Vorschlag, eine Live- Sendung unter unserem Namen, aber dafür fast kostenlos auf die Beine zu stellen. Darauf ließ sich der NDR ein. Erstmal sechs Sendungen sollten produziert werden. Die TV-Kollegen behielten sich aber das Recht vor, jederzeit kündigen zu können. Die Schmidt Mitternachtsshow wurde ein großer Erfolg und nach der dritten Sendung kündigte nicht das Fernsehen, sondern wir. Wir wollten eine Sendung pro Monat an einem festen Sendeplatz und nun auch anständig bezahlt werden. Das hat man akzeptiert und es wurden über 40 wunderbare Shows, bis wir 1993 irgendwann feststellen mussten, dass die Luft ein wenig raus war. Es war alles schon da gewesen und es waren auch alle schon da gewesen Heidi Kabel, Rio Reiser, Hildegard Knef, Harald Juhnke, Marianne Rosenberg und viele andere mehr.
In einer Silvester-Livesendung gerieten wir mal in Panik, als Vicky Leandros um kurz vor zwölf ihren Hit Ich liebe das Leben sang. Ernie neben mir zerfloss schmachtend in Tränen und kümmerte sich nicht um den fortschreitenden Sekundenzeiger. Statt ihr Lied pünktlich zu beenden rief Frau Leandros um genau eine Minute vor Mitternacht: Jetzt alle mitsingen! Zwanzig Sekunden vor dem Jahreswechsel war sie fertig so schnell habe ich nie wieder einen Gast abmoderiert und von der Bühne geschoben. Auch Skandale hatten wir reichlich. Nach der legendären Sauna-Sendung aus den Ostsee- Thermen in Scharbeutz titelte die BILD gar: Schmidt im TV Pfui! Zwei Männer hatten sich lediglich einen Zungenkuss gegeben und bei einer Quiz-Einlage hieß der Assistent von Moderator Ades Zabel die geile Sau, das war alles. Heute würde kein Hahn mehr danach krähen. Über die Jahre wurde der marode Bau allerdings nicht besser. Als es an verregneten Tagen dann irgendwann nass im Theater wurde, wir bei einer Premiere sogar mal zahlreiche Eimer zum Auffangen der Wassertropfen aufstellen mussten und das Efeu über der Bühne durch die Decke wuchs, machten wir Nägel mit Köpfen. Ein Neubau sollte her. Als das Abrisskommando Anfang 2004 kommen sollte, habe ich mich in den Urlaub verabschiedet. Ich wollte den Abriss nicht mit ansehen. Leider verzögerte sich der Beginn der Arbeiten bis einige Tage nach meiner Rückkehr. Schön war der Anblick nicht, als der damalige Chef der Sprinkenhof AG, Karl-Heinz Ehlers, lustvoll mit dem Bagger ins alte Schmidt bretterte. So viele Erinnerungen an spektakuläre Vorstellungen steckten darin: Wuttke 2 von AprillfrischMägädämSchwarz mit Stefan Gwildis als singender Autoschlosser, Piaf mit der genialen Julia Kock in der Titelrolle, der Mitmach-Krimi Mord im Frisiersalon, die monatlich wechselnden Folgen der Theater-Soap Pension Schmidt, die Six Sex Weeks, bei der Annie Sprinkle dem irritierten Publikum Einblicke in ihre Gebärmutter gab und dann bei Walzerklängen ihr Busenballett tanzen lies. Ich erinnere mich an einen Abend, da fiel der Strom aus und es wurde bei Kerzenschein zu Ende gespielt. An einem anderen Abend brach sich ein Schauspieler den Unterarm, als er seinem Kollegen eine Ohrfeige auf der Bühne zu geben hatte. Es fand sich eine Zuschauerin, die Klavier spielen konnte und der Pianist spielte die Rolle des Verletzten zu Ende.
Ja, der Abriss war schmerzhaft, aber wir wurden mit einem wunderschönen Neubau, der mehr Plätze und etwas mehr Möglichkeiten birgt als das alte Schmidt, aber noch in genau dem selben rotplüschigen Ambiente erscheint, entschädigt. Seit dem 8.8.2005 machen wir hier nun unser Volkstheater für Kopf, Herz und Bauch, haben neue, genauso schöne Produktionen von der Villa Sonnenschein bis hin zu Oh Alpenglühn! auf der Bühne, am Samstag in der Nacht tönt es immer noch schräg und schrill bei der Mitternachtsshow und jede Woche besuchen uns wunderbare Gastkünstler und wir haben immer noch so viel Spaß daran, dass wir gut und gerne noch mindestens weitere 25 Jahre so weiter machen können.