Im Jahr 1776 machte der Philosoph Jean-Jacques Rousseau einen Spaziergang durch die abgeernteten, menschenleeren Weinberge und Felder vor Paris. Beeindruckt durch das Bild der Verlassenheit um sich herum schrieb er: „Der Anblick bot eine Mischung aus schönen und traurigen Eindrücken, die meinem Alter und meinem Schicksal so sehr entsprach, dass ich ihn geradezu auf mich beziehen musste.“ Diese Zeilen kamen mir in den Sinn, als ich unlängst maskiert und zu allem und jedem den gebotenen Abstand wahrend mit einem Freund durch die Straßen und Gassen der queeren Szene in der Frankfurter Innenstadt flanierte. Die Stationen unseres sonst leutseligen Bar-Hoppings fanden wir erwartungsgemäß mit herabgelassenen und dem Straßenstaub von Monaten bedeckten Rollläden vor. Doch entlang unserer üblichen Pfade durch das schwule Bermuda-Dreieck begegneten uns immer wieder die Menschen, die unsere Szene so liebenswert machen. Schnell waren die wenigen Neuigkeiten ausgetauscht und man lachte und schäkerte gemeinsam. Auch Rousseau erging sich angesichts des von seiner Umgebung dargebotenen Bildes der Einsamkeit nicht in Missmut. Vielmehr erzeugte sie eine neue Bezogenheit zu sich selbst, Selbstgenuss und einen Verstärker seiner Emotionen, sodass er notierte: „Die Quelle des wahren Glücks, so lernte ich durch eigene Erfahrung, liegt in uns selber; und keine Macht der Welt vermag es, jemanden elend zu machen, der glücklich sein will und weiß, wie er es wird …“
Der Weg ist das Ziel
Spazierengehen lässt sich, wenn man nichts zu tun und das Ziel weniger Bedeutung hat als der Weg. Ein pandemischer Lockdown ist deshalb hierfür eine beinahe ideale Voraussetzung. Obwohl es eine Beschäftigung von allergrößter Beliebigkeit zu sein scheint, gibt es auch hierfür mehrere Techniken, denn das Spazieren beschränkt sich nicht wie beim Philosophen Rousseau auf das bloße Naturerlebnis und die mitunter enthusiastischen Empfindungen. Eine Form von Feldforschung im besten Sinne beginnt, wenn der Spaziergang zwar so willkürlich und variantenreich bleibt, dass er Abwechslung verschafft, aber doch immer denselben Wegpunkt schneidet, um zu schauen, was und wer dort ist. Im Grunde also wie Cruising in freier Natur und ohne Sex. Dem Spazierengehen wohnt darüber hinaus noch eine zweite sexuelle Anmutung inne, wovon hier noch die Rede sein wird.
Foto: flickr Nutzer Elvert Barnes/CC BY SA 2.0
Spazieren
Spazieren als emanzipatorischer Akt - Foto: Flickr User Elvert Barnes - Lizenz Creative Commons CC BY SA 2.0
Weltstädtisches Gegenüber des Streifzuges durch Feld, Wald und Wiese ist das Flanieren. Der Dandy des 19. Jahrhunderts war nicht nur oft berufsmäßiger Flaneur, sondern erhob das Umherschlendern im Stadtraum gleichsam zu einer individuellen Lebenskunst. Flaniert wird nicht im Nirgendwo, sondern bevorzugt an Orten, die einen Namen haben, deren Ruf und Geschichte bekannt sind. Der Aktionsbereich des Flaneurs ist dem Revier eines Tieres nicht unähnlich, jedoch mit dem wesentlichen Unterschied, dass andere Flaneure nicht als Konkurrenten verbellt, sondern freundlich gegrüßt werden. Man kennt sich.
Spazieren als emanzipatorischer Akt
Es gibt übrigens nicht nur Flaneure, sondern natürlich auch Flaneur*innen. Allerdings erst heute. Im 19. Jahrhundert, als der genießerische Lustwandel auf den Boulevards der Großstadtmetropolen in Mode kam, taten das nur Männer. Spazierende, unbegleitete Frauen deutete der Zeitgeist damals als Prostituierte, die ihre sexuellen Dienstleistungen an den Mann bringen wollten. Während jener nur seinen Trieben, Emotionen und Instinkten folgend durch den Großstadtdschungel streifen durfte, war der gesellschaftlich gebotene Aktionsraum der domestizierten, sexuell marginalisierten Frau das Haus. Wo die Einhaltung von Konventionen verlangt wird, gibt es immer auch welche, die sie genau deshalb infrage stellen. So kennt die Geschichte nicht nur die weibliche Passante, die nun endlich spazieren gehend ihren Platz in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit einnimmt. Flaneusen wie George Sand oder Virginia Woolf forderten die Platzhirsche der Flaniermeilen heraus und verfertigten diesen emanzipatorischen Akt zu Literatur.
In diesem Licht betrachtet, ist ein Spaziergang durch die Szene also nicht nur das alkoholfreie Äquivalent zum Bar-Hopping, sondern kann durchaus auch die (Sinnes-)Lust beflügeln und sogar queere Ausdrucksform sein.