Die Übergangsjacke
Nicht wenige starren in diesen Tagen in hypnotischer Bereitschaft auf das Display ihres Telefons in der gebannten Erwartung eines eingehenden Anrufs mit schwedischer Vorwahl. Denn in diesem Monat unterrichtet das Nobelpreis-Komitee in Stockholm traditionell die diesjährigen Preisträger*innen über ihre Auszeichnung.
Und wer wollte schon in so einer unvorbereitet-peinlichen Lage davon erfahren, wie seinerzeit Günter Grass, der die Mitteilung seiner Würdigung in einem Zahnarztstuhl empfing.
Unterdessen sind die Einzelhändler damit befasst, rechtzeitig die Schokoladen-Nikoläuse in ihren Ladenauslagen zu drapieren, um in ihrem Berufstand nicht als Gescheiterte zu gelten.
Wenn uns dann u(h)rplötzlich mitten in der Nacht auch noch die vor einem halben Jahr qualvoll entwundene Sommerzeit-Stunde zurück erstattet wird, müssen wir anerkennen:
Es ist Oktober geworden.
Treffsicher sind auch jene, die zur Feststellung des Oktoberanfangs gar nicht erst den Kalender bemühen, sondern sich schlankerhand einfach am Dirndl-Angebot in den Discounter-Prospekten orientieren.
Während das Münchener Original in diesem Jahr schon wieder seinem Ende entgegen sieht, schunkeln Oktoberfest-Simulationen noch Wochen durch die Bierzelte der Republik, um danach nahtlos in den irischen Geisterbahn-Import Halloween überzugehen.
Nicht selten ist es den Kostümierten aber kaum anzusehen, für welches der beiden Feste sie sich mit ihrer Maskerade eigentlich entschieden haben, weshalb ich mich, auch der zeiträumlichen Nachbarschaft wegen, an dieser Stelle für eine Zusammenlegung der beiden Brauchtümer ausspreche.
Ohnehin ist der Oktober ein Monat der Würdigung und des Gedenkens.
So begehen wir in diesen Wochen nicht nur den Eichhörnchen-Wertschätzungsmonat, sondern auch den Monat der eingelegten Paprika.
Dazu noch sinnwidrig sowohl den Monat des Vegetarismus als auch den Monat des Schweinefleischs und – mutmaßlich als Konsequenz aus diesem Widerspruch – den Monat des Sarkasmus.
Ohne uns nun weiter mit altmodischen Verbrauchtheiten von Redensarten bezüglich des unaufhaltsamen Jahresflusses oder des aufziehenden Herbstwetters zu beschweren, soll einem Gegenstand Ehre angetan werden, der uns zumindest vor der zuletzt genannten Witterung beschützt: Die Übergangsjacke.
Die Übergangsjacke könnte an einem überraschend sonnigen März-Sonntag vor 10.000 Jahren am Ende der letzten Eiszeit erfunden worden sein, als es plötzlich nicht mehr ausreichte, am über Jahrtausende bewährten Gehpelz einfach die obersten drei Knöpfe zu öffnen, um sich Kühlung zu verschaffen.
Ganz ähnlich - aber umgekehrt - geht es uns auch im gegenwärtigen Jahresabschnitt, wenn am Ende eines sonnigen Altweibersommertages ein Wind von fremder Luftbeschaffenheit jäh unser Gebein erschreckt.
Kein Textil veranschaulicht doch so deutlich den ständigen Wechsel und trägt den Umbruch darüber hinaus noch so tiefgründig im Namen wie eben die Übergangsjacke.
Erst seit gestern bin ich wieder glücklich mit meinem beigen Übergangs-Trenchcoat vereint, den ich beim panischen Aufräumen anlässlich eines sturmklingelnden Heizungsablesers einmal an einen absurden Ort in meinen Kleiderschrank gestopft und deshalb drei Jahre nicht mehr gefunden habe.
Dass dieser Herbst nicht nur den Wechsel der Witterung bringt, gilt auch für einen der größten, ältesten und fraglos in seinem Wirken durch die vergangenen Jahrzehnte wichtigsten Vereine der queeren Communities in Frankfurt und dem Rhein-Main-Gebiet: Die AIDS-Hilfe Frankfurt.
Der derzeitige Vorstand des 1985 gegründeten Vereins steht nach zwei Jahren Amtszeit nun wieder zur Wahl durch die Mitgliederversammlung.
Eine Erweiterung des Vorstandes ist im Gespräch und neben altgedienten und verdienten Personalien stellen sich auch neue Kandidat*innen zur Verfügung, darunter einige in der erklärten Absicht manches neu und anders gestalten zu wollen.
Es soll kein Zweifel daran bleiben, dass die AIDS-Hilfen allerorten, wo sie es nicht schon tun, den Blick in die Zukunft richten müssen.
Denn auch nach dem Abebben der AIDS-Epidemie der 80er und 90er Jahre gehört Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen, denen wir uns nahe und verbunden fühlen, keineswegs der Vergangenheit an und noch immer sind viele Menschen auf die Vertrautheit und die Erfahrung der Mitarbeiter*innen der AIDS-Hilfen angewiesen, die sie so wohl kaum von öffentlichen Stellen erwarten könnten.
Die Hinwendung zu neuen, künftig denkbaren Handlungsfeldern der Vereine kann aber nur in maßvollem Übergang und nicht als brachialer Umkehrschwung geschehen, denn zu viele Menschen sind mit ihrer Gesundheit und nicht selten auch mit ihrem Leben auf erfolgreich arbeitende AIDS-Hilfen angewiesen, die nach wie vor für das stehen, wofür sie in den Tagen ihrer Gründungen angetreten sind.
Umso wichtiger ist es angesichts neuer Aufgaben und der Berücksichtigung von Menschen, für die es bislang nur wenige oder keine Hilfsangebote gibt, nicht nur die die AIDS-Hilfen sondern alle LGBTIQ*-Gruppen und Vereine durch persönliche Beteiligung wieder von mehr Schultern gestützt zu sehen und sie in den Communities wieder feiner und standfester zu verwurzeln.
Damit wir aber für diesen Monat nicht mit der inhaltsleeren Phrase eines Rufes nach mehr Engagement enden, soll hier zum Schluss der Vollständigkeit und Transparenz halber nicht unerwähnt bleiben, dass auch die Verfasserin dieser Zeilen zur Korona der Bewerber*innen für den künftigen Vorstand der Frankfurter AIDS-Hilfe zählt.