„Wer nicht weiß, welchen Hafen er ansteuern will, für den ist kein Wind günstig“, lautet ein Ausspruch des römischen Philosophen und Staatsmannes Seneca. Er meint damit, dass man ohne ein klares Ziel vor Augen weder von günstigen Gelegenheiten noch gezielter Unterstützung profitieren kann.
Im Bezug auf die aktuelle Queerpolitik kann derzeit von günstigem Wind keine Rede sein. Vielmehr herrscht Flaute. Bei den jüngsten Landtagswahlen in Mittel- und Ostdeutschland erlitten die Parteien Schiffbruch, die in den letzten Jahren die Gleichberechtigung und Berücksichtigung von Lesben, Schwulen und Transgendern maßgeblich unterstützt haben. Am Horizont droht darüber hinaus schwerer Sturm, denn andererseits waren Parteien erfolgreich, die die Belange von LGBTIQ* in der Vergangenheit regelmäßig links liegen ließen, der Genderpolitik den Wind aus den Segeln nehmen oder gar einen Schuss vor den Bug setzen möchten.
Ferne Gestade oder sicherer Hafen?
Schon im Vorfeld der Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen haben deshalb queere Engagierte darüber beraten, wie sie mit dem absehbaren Schwerwetter umgehen sollen. Denn bei Sturm gibt es zwei Taktiken: Entweder lässt man sich vor Wind und Wellen hertreiben und schaut, wohin es einen verschlägt, oder man kreuzt mit hohem Kraftaufwand gegen an, um wenigstens noch etwas in die richtige Richtung zu fahren.
Bild: mit KI erstellt
Queeres Boot im Sturm
In der Queerpolitik herrscht Flaute, doch am Horizont droht Sturm.
Dafür ist es wichtig, realistisch erreichbare Ziele bestimmen und benennen zu können. Soll man auf die in weiter Ferne liegende Ergänzung des Grundgesetz-Artikels 3 um die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität zusteuern, wenn dieses Ziel selbst unter der gegenwärtigen queerfreundlichen Koalition nicht erreicht werden konnte? Oder sollte man stattdessen lieber gut verankerte Rettungsinseln schaffen, um damit wenigstens Prävention, Gesundheitsversorgung und psychosoziale Unterstützungsangebote, also die queere Daseinsvorsorge, über Wasser zu halten? Nur theoretisch könnte Letzteres noch die Ampel-Bundesregierung leisten, tatsächlich ist sie jedoch selbst ein manövrierunfähiges Wrack.
Pragmatische Navigation
Es ist blauäugig zu glauben, der LGBTIQ*-kritische Gegenwind blase nur aus dem Osten. Wer schaut, welche politischen Kräfte bei den letzten Europawahlen auch im Westen den zweiten und dritten Platz belegten, ahnt, welche Ungeheuer dicht unter der Oberfläche lauern.
Es ist deshalb wichtig, dass queere Akteur*innen auch hier in ihren Runden ernsthaft beraten, ob angesichts der heraufziehenden Sturmfront die ersehnten Gestade der Ferne in nächster Zeit erreichbar sind, oder ob es nicht klüger ist, mit dem Erreichten vorerst in einen sicheren Hafen einzufahren.