Im Jahr 1819 veröffentlichte der Philosoph Arthur Schopenhauer sein Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“, in dem er zeigt, wie der menschliche Geist seine Realität oft auf unbewusste und zwanghafte Weise durch seine Vorstellungen formt.
Die letzten Tage des US-Präsidentschaftswahlkampfs haben gezeigt, wie sehr unsere Wahrnehmung der Welt durch unsere Sinne und unseren Verstand geprägt ist. Hierzulande hatte man sich die lachende Kamala Harris so sehnsüchtig gewünscht, dass deutsche USA-Korrespondenten eindringlich zur Objektivität mahnen mussten, weil es in ihrer Wahrnehmung vor Ort keineswegs so rosig für die Demokratin aussehe. Wenige Tage später verschwand sie in der Versenkung und ihr Konkurrent Trump hatte nicht nur gewonnen, sondern triumphiert.
Europa im Sog queerfeindlicher Wellen
Die politische Strahlkraft der amerikanischen Richtungswahl ist enorm. Trumps erneuter Wahlsieg sendet ein unüberhörbares Signal an konservative und rechtspopulistische Kräfte in Europa, ihre Agenda gegen die LGBTIQ*-Gemeinschaft aggressiver durchzusetzen.
Bild: mit KI erstellt
Queere Dystopie
„Der menschliche Geist formt seine Realität oft auf unbewusste und zwanghafte Weise durch seine Vorstellungen.“
Länder wie Ungarn und Polen, in denen die Rechte von queeren Menschen bereits in den letzten Jahren infrage gestellt wurden, sehen sich nun bestätigt. Trump, der sich offen gegen liberale Werte und queere Rechte stellt, wird für ihre politische Agenda zu einer inspirierenden Figur.
“Be careful what you wish for”
Dass die Ampelkoalition enden möge, hatten sich hierzulande viele erhofft, in dem Sinne, wie man sich wünscht, dass ein quengelndes Kind im Restaurant zu schreien aufhören möge. Dass das nervtötende, aber immerhin lebendige Dreierbündnis nun abrupt zum parlamentarischen Zombie wird und ohne Oppositionsstimmen dringend notwendige Gesetze nicht mehr beschließen kann, macht nun doch betroffen. So war dem Vernehmen nach eine Regelung der Gesundheitsversorgung von nicht binären transidenten Menschen zur Verabschiedung im Bundestag vorgesehen. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass nach der Neuwahl ein Bundeskanzler Merz ausgerechnet diese Vorlage zuerst und überhaupt in der Legislaturperiode aufgreifen wird. Gleiches gilt für die Ergänzung des Grundgesetzartikels 3 um die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität, die schon die selbst erklärte Fortschrittskoalition nicht zuwege brachte. Zudem ist die Sorge groß, dass das soeben in Kraft getretene Selbstbestimmungsgesetz, mit dem Transgender leicht zugänglich die eigene Geschlechtsidentität anerkennen lassen können, mit zusätzlichen Hürden versehen wird.
Es ist auf beiden Seiten des Atlantiks etwas ins Rutschen gekommen, das hier wie dort nach einem Jahrzehnt bedeutender Fortschritte für die Belange von LGBTIQ* eine Phase der Stagnation einläuten könnte – im besten Fall! Um zumindest den Status quo zu erhalten und künftige queerpolitische Zwischenziele zu erreichen, wird es mehr brauchen als die Vorstellung von gesellschaftlicher Anerkennung und Schutz vor Diskriminierung, sondern den unbedingten Willen dazu, durch den alles bisher Erreichte Wirklichkeit wurde.