Mario Testino: Helden, Bizeps und Nippel

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„Seine Fotos sind nicht nur Abbildung bloßer Hüllen. Testino schafft es mit Licht, Make-up und Bildkomposition Arbeiten, die anmuten, als würden sie dem 2-D-Medium entfliehen wollen. Models und Nebendarsteller scheinen aus dem Bild zu treten und auch die dritte Dimension für sich zu beanspruchen.“


Foto: Walterlan Papetti, CC BY-SA 4.0, wikimedia

Der peruanische Starfotograf Mario Testino beschäftigt sich seit jeher mit den Körpern bekannter und unbekannter Schönheiten und geht dabei vor, als hätte er großartige Bauwerke vor sich und keine Menschen. Testino nimmt die Beschaffenheit der Haut seiner Porträtierten unter die Linse. Kein Haar bleibt vergessen. Der 1954 in Lima geborene Testino begann seine Karriere als Editorialfotograf für diverse Modemagazine, heute konzentriert er sich vornehmlich auf Porträtfotografie. Bevorzugtes Subjekt seiner Arbeiten: Oscarpreisträger, Grammygewinner und Superstars. Testino ist Regisseur und Autor. Jedes seiner Bilder erzählt eine Geschichte. Wenn er Gisele Bündchen – ein Liebling Testinos – halb nackt und die Haare wie aus Stein gemeißelt in ein Schlafzimmer mit goldenen Statuetten stellt und im Hintergrund ein Zimmermädchen einen Strauß roter Rosen drapiert, dann weckt das im Betrachter nicht nur Lust auf Urlaub. Hat sie die Nacht allein verbracht? Wem gehört diese Luxusvilla? Stammen die Rosen vom gleichen Mann? Vielleicht von einer Frau? Testinos Bilder sind mehr als Fotos, sie sind Erlebniswelten, die jeden, der sie sieht, herausfordern, Geschichten zu spinnen. Seine Fotos sind nicht nur Abbildung bloßer Hüllen. Testino schafft es mit Licht, Make-up und Bildkomposition Arbeiten, die anmuten, als würden sie dem 2-D-Medium entfliehen wollen. Models und Nebendarsteller scheinen aus dem Bild zu treten und auch die dritte Dimension für sich zu beanspruchen. Testinos Werke sind aber auch Hommage an die Popkultur und immer ein bisschen Karikatur. Die Helden seiner Bilder werden von Testino überzeichnet, Linien folgt er nicht und malt über, wo ohnehin schon zu viel ist. Die Nase zu groß? Der Po zu üppig? Testino macht die Nase größer und den Po üppiger. Testino huldigt der Oberflächlichkeit, ohne dabei an Tiefe zu verlieren.

In seinem neuesten Werk, SIR, versammelt der „Vogue“-Fotograf erstmals ausschließlich Männerfotografien. Der im TASCHEN Verlag erschienene Bildband zeigt aber nicht nur Bizeps und Nippel, er will Dokumentation des Männerbildes sein und seiner Wandlung über die letzten drei Jahrzehnte. Und wer könnte das besser als Mario Testino? Der heute 60-Jährige war dabei, als der Mann den Wandel vom Patriarchen zum Frauenversteher machte. Er fotografierte Brad Pitt, als er vom Sonnyboy zum bärtigen Waldschrat mutierte. Er fotografierte Männer in Kleidern, als der Begriff Dragqueen lediglich in Mikrokosmen existierte, und räumte dem männlichen Hinterteil Erotik ein, als es eigentlich niemand sehen wollte. Heute darf Mann Strumpfhose tragen UND sich dabei in den Schritt greifen. Eine Zeitreise und ein Porträt mit Hundert Gesichtern: SIR. www.mariotestino.com

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