London Grammar: „Ich lege nicht allein den künstlerischen Kurs fest“

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Die Sängerin Hannah Reid ist erfreulich unprätentiös. Für das Video-Interview hat sie sich nicht großartig gestylt. Sie sitzt ganz lässig in Jeans und Sweatshirt bei sich zu Hause in London und redet völlig unaufgeregt über das neue Album ihrer Band London Grammar, das „Californian Soil“ heißt.

Alle Songs seien bereits vor der Pandemie entstanden, erklärt sie. Somit greifen sie keine Themen wie Isolation in Zeiten von Corona auf, sondern rücken Feminismus in den Mittelpunkt. Das kommt nicht von ungefähr – Hannah Reid will als Frau im Musikgeschäft endlich ernst genommen werden. Deswegen hat sie sich zur Bandleaderin erklärt. Wie haben der Gitarrist Dan Rothmann und der Keyboarder Dominic „Dot“ Major darauf reagiert? „Sie verstanden sofort, worum es mir geht“, sagt die Britin. „Ich möchte mehr Respekt von außen bekommen.“ Das habe an den internen Strukturen allerdings nichts geändert: „Ich lege nicht allein den künstlerischen Kurs fest. Als Gruppe setzen wir nach wie vor auf Demokratie.“

Das zeigt sich zum Beispiel an dem Stück „Talking“, das ursprünglich für die letzte Platte „Truth Is a Beautiful Thing“ vorgesehen war. Es machte damals nicht das Rennen, weil es zu wenig Single-Potenzial hatte. Damit konnte sich Hannah Reid aber nicht abfinden. Sie kramte die Demoversion wieder hervor und entschied einvernehmlich mit ihren beiden Mitstreitern, diese Nummer zu vollenden. „Den Klavierpart hat Dot tatsächlich binnen weniger Sekunden komponiert“, schwärmt Hannah Reid. „Er ist wirklich ein unglaublicher Pianist.“

Das Ergebnis kann sich durchaus hören lassen: „Talking“ verzaubert als hinreißende Ballade. „Als ich den Text schrieb“, führt Hannah Reid aus, „war ich irgendwie paranoid. Ich brauchte nach zahlreichen Auftritten jemanden, der mich erdete.“ So entstand ein Liebeslied, in dem die 31-Jährige ihre Bedürfnisse auf den Punkt bringt. Bei ihr kommt Feminismus eben eher auf Samtpfoten daher. Mal offenbart sie ihre Sehnsüchte, mal sagt sie emotionalem Missbrauch in einer Beziehung den Kampf an, der Titelsong „Californian Soil“ wiederum handelt davon, die Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen. Wenn sich Hannah Reids glasklarer Gesang bei diesem Lied über sphärischen Trip-Hop legt, klingt das traumhaft schön.

So pendeln London Grammar immer wieder zwischen handgemachter Musik und elektronischen Passagen. Bei „Missing“ vereinigen sich pluckernde Beats mit Streichern. Inhaltlich tanzt diese Nummer jedoch ein bisschen aus der Reihe. Sie erzählt davon, wie sich einige Musiker*innen im Sumpf aus Drogen und Alkohol verlieren. „Als ich mir Dokumentationen über Amy Winehouse, Whitney Houston oder Avicii ansah, habe ich geweint“, offenbart Hannah Reid. „Ihre Schicksale sind absolute Tragödien.“ Sie selbst scheint zum Glück nicht Gefahr zu laufen, aus der Spur zu geraten: „Während einer Tournee würde ich mich niemals betrinken. Ich hätte Angst davor, dass ich verkatert gar nicht meine volle Leistung abrufen könnte.“

Apropos touren: Vermisst Hannah Reid im Moment das Unterwegssein? Jein – einerseits hat sie sich daheim ziemlich gut eingerichtet, andererseits fehlen ihr die Fans: „Ich sehne mich danach, mich emotional mit Menschen zu verbinden, denen unsere Musik wichtig ist.“ Dabei leidet sie vor einem Konzert stets unter furchtbarem Lampenfieber: „Ich habe zumindest die leise Hoffnung, dass es mir vor zukünftigen Gigs etwas besser gehen wird. Einfach weil ich mit unserem neuen Album so glücklich bin, dass das mein Selbstvertrauen stärkt.“

*Dagmar Leischow

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