HAMBURG: Die unheiligen zwei

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Foto: Roman Holst

St. Georg und St. Pauli sind als einzige Hamburger Stadtteile nach katholischen Heiligen benannt. Gleichzeitig sind sie die beliebtesten Ausgehviertel und Zentren des horizontalen Gewerbes – und: beliebte Wohnviertel von Queers.

Seit zehn Jahren ist Fotograf Roman Holst ein Beobachter und Chronist queeren Lebens in Hamburg und dabei in unzähligen Fotosessions auf Partys und den Wegen des Nachtlebens der Hansestadt unterwegs. Er ist besessen von ihren feiernden, queeren Bewohnern und Gästen: 

„Generell finde ich es spannender, Minderheiten abzulichten. Durch meine Erziehung bin ich früh mit Diversität konfrontiert gewesen, fotografisch ist es für mich daher immer naheliegend gewesen, mich künstlerisch mit diesem Thema auseinanderzusetzen und zu hinterfragen, was eigentlich gesellschaftliche Normalität ist. Das ist grundlegender Bestandteil vieler meiner Arbeiten und – danke schön dafür! – die queere Szene bietet einen unerschöpflichen Fundus an Inspiration und Motiven.“

Das schwule Dorf

Foto: Roman Holst / instagram.roman_holst

Wenn es nach Roman geht, startet die Erkundung der beiden unheiligen Stadtteile auf jeden Fall in St. Georg, dort in der Langen Reihe. Diese unerwartet kleine Straße direkt hinter dem Hauptbahnhof, zwischen einem interessanten Mix aus bürgerlichen Gründerzeithäusern, gewagten Neubauten und einigen schnell verdichteten Narben des Zweiten Weltkriegs, war bis in die jungen 2000er-Jahre das Epizentrum queeren Lebens in Hamburg.

Foto: Roman Holst

Hier reihten sich so viele Bars und Cafés mit Regenbogenfahnen aneinander, dass die Einheimischen die Lange Reihe scherzhaft als den schwulen Laufsteg der Hansestadt bezeichneten. Der Autor dieses Artikels lebte von 1999 bis 2010 in Hamburg und kann sich noch gut daran erinnern, dass er besonders nach langen Nächten in den nahe liegenden Darkroom-Bars wie Toms Saloon, S.L.U.T. oder der Dragon Sauna einen Bogen um diese Straße machte, um nicht wegen seines desolaten Aussehens zum Dorfgespräch zu werden. Ja, St. Georg war ein kleines schwules Dorf in der inzwischen 1,8 Millionen Einwohner zählenden Metropole an der Elbe. Außer den genannten eher expliziten Läden sind hier bis heute Hamburgs einzige Fetisch-Leder-Manufaktur MRChaps, die AIDS-Hilfe Hamburg und der schwule Checkpoint Hein & Fiete angesiedelt. Von den zahllosen Cafés und Bars sind in der Langen Reihe selbst eigentlich nur noch die M&V-Bar, das Uhrlaub, Frau Möller und natürlich das Café Gnosa übrig, das eine ganz besondere Geschichte hat.

Das Gnosa ist Hamburgs erstes schwules Café gewesen, das seine Gäste nach der Entkriminalisierung von Homosexualität in der Bundesrepublik nicht mehr hinter schweren Türen mit Klingel versteckte, sondern in den 1980ern die Vorhänge seiner großen Fensterfront lichtete und sogar eine Außenbestuhlung einrichtete.

Foto: Roman Holst / instagram.roman_holst

Roman empfiehlt dann auch, in einem dieser Cafés mit hervorragenden Frühstücks- und Mittagsangeboten die Stärkung für den Tag einzunehmen, bevor es dann wahlweise zum Entspannen auf eine der nahe liegenden Außenalsterwiesen mit ihrem grandiosen Blick auf die so fern wirkende Innenstadt oder mit der S-Bahn in 15 Minuten nach St. Pauli geht.

Sperrbezirk St. Pauli

Nein, in Hamburg gibt es heute weder einen Sperrbezirk noch eine Sperrstunde. Partyleben und das Vergnügen mit Sexarbeitern sind rund um die Uhr erlaubt. Aber die Konzentration dessen im Stadtteil St. Pauli rund um die weltberühmte Reeperbahn ist einer solchen historischen Vorgabe geschuldet. Der Stadtteil St. Pauli gehört zu Altona, welches in der mittelalterlichen Blütezeit der Hanse nicht Teil der Freien und Hansestadt Hamburg war, sondern eine Enklave des Königreichs Dänemark. Vor- oder je nach Ansicht auch Nachteil dieses Kuriosums für die Einwohner Hamburgs war, dass die Gesetze der Stadt in diesem hafennahen Bezirk nicht galten.

Foto: Roman Holst

Sexarbeit, Alkoholkonsum und jede Menge nicht regulierter Handel mit Waren aus aller Welt konnten hier ohne allzu große Angst vor Entdeckung und Ahndung betrieben werden. Verbrechen und Gefahr für Leib und Leben inbegriffen, besonders des Nachts, wenn zur damaligen Sperrstunde die Tore zur Stadt geschlossen wurden und jeder, der noch auf St. Pauli weilte, zusehen musste, wie er die gefährlichen Stunden außerhalb der geregelten Gesellschaft unbeschadet überstehen sollte, bis er in den frühen Morgenstunden wieder auf „sicheres Stadtgebiet“ zurückkehren konnte. Das bis heute legendäre Nachtleben von St. Pauli hat in dieser Tradition seinen Ursprung – selbstverständlich auch für Schwule, die ihre verbotene Liebe oder den Flirt mit sexuell ausgehungerten Seefahrern aus aller Welt dort auslebten. Zu diesem Nachtleben aber später noch kurz, immerhin sind wir ja noch am hellen Tag unterwegs und sollten diesen nutzen.

Hafenromantik

Foto: Roman Holst

Foto: Roman Holst / instagram.roman_holst

Angekommen am S-Bahnhof Landungsbrücken, lohnt der Aufstieg auf dessen Dach, eine terrassenartige Anlage am in der Eiszeit entstandenen Hang, der die Grenze von St. Pauli zum daruntergelegenen Elbe- und Hafengebiet markiert – daher auch der Ausdruck „auf“ statt „in“ St. Pauli. Ein grandioser Ausblick auf das 24 Stunden arbeitende wirtschaftliche Herz der Stadt, die Docklands, belohnt die Mühen des Treppensteigens. Je nach Lust und Kondition bieten sich von hier aus Hafenrundgänge oder -fahrten an. Letztere sind in einem Tagesticket des Verkehrsverbundes sogar inbegriffen: Die HADAG-Fähren sind damit die günstigste Methode, Hafen und Stadt vom Wasser aus zu erkunden. Einen einheimischen Flirt oder Gastgeber sollte man sich aber angeln, denn im Gegensatz zu den privatwirtschaftlichen Barkassenbetrieben gibt es auf den Fähren keine Sightseeing-Durchsagen. Roman empfiehlt vor allem einmal direkt auf die den Landungsbrücken gegenüberliegende Elbseite in die Docklands zu wechseln und von da aus die Skyline der Stadt bis zur beeindruckenden Elbphilharmonie zu genießen.

Foto: Roman Holst / instagram.roman_holst

Die beste Quelle für Postkartenmotiv-Postings auf Instagram und Facebook – besonders im Sonnenuntergang schimmert hier alles, sollte es ausnahmsweise einmal nicht regnen oder nebelig sein. Hamburger „Schietwetter“ (Plattdeutsch für Scheißwetter) ist allerdings heutzutage besonders in den Sommermonaten eine ähnliche Chimäre wie das eingangs beschriebene und durch Gentrifizierung reichlich ausgedünnte schwule Dorf St. „Gayorg“. Der Klimawandel hat Elbstrand und Parks nahe St. Pauli heutzutage eher den Ruf des nördlichsten italienischen Dolce-Vita-Refugiums der Erde eingebracht.

Die sündige Meile

St. Pauli hält für das abendliche Dinner (Abend kann bitte von 18 bis 3 Uhr nachts interpretiert werden) einige herausragende und einige kuriose Anlaufstellen parat. Direkt in der Nachbarschaft der Reeperbahn liegt zum Beispiel das Freudenhaus mit bodenständiger deutscher Küche von Sauerbraten bis Rinderroulade, jeweils benannt nach den (queeren) Größen des kulturellen Lebens des Stadtteils, viele davon aus den nahen Spielstätten des Schmidt Theaters, die täglich eine große Bandbreite schwuler Kleinkunst und queerer Shows bieten. Romans Tipp für ein spätes Nachtmahl ist Erika’s Eck in der Sternstraße 98 mit „den besten Bratkartoffeln mit Roastbeef oder Wiener Schnitzel der Stadt“ – Roman empfiehlt zwei Uhr in der Nacht für einen Besuch, um ins originale Leben von St. Pauli einzutauchen.

Foto: Roman Holst / instagram.roman_holst

Eine gute Zeit, denn Konzerte und die erste Welle in den Klubs wie Mojo oder Damensalon sind dann schon im jägermeistervernebelten Nirwana der Gehirnwindungen verschwunden. Eine Stärkung ist angebracht, um zum Beispiel bei Hamburgs bester und ältester schwulen Party, der Camp 77, auf der Reeperbahn 25 vorbeizuschauen, die sehr queere Pink Inc. im Schmidts Tivoli zu besuchen oder gleich die 24 Stunden geöffneten Sexkinos und Absturzspelunken in der Talstraße und auf dem Hamburger Berg zu begeben.

Foto: Roman Holst

An die Hand genommen

Wer sich nicht alleine traut, kann beide Stadtteile auf mehr oder weniger auch schwulenhistorisch geführten Stadtrundgängen kennenlernen. Die berühmtesten dieser Führungen veranstalten auf St. Pauli die Dragqueens Olivia Jones und Lilo Wanders und in St. Georg das Team des schwulen Checkpoints Hein & Fiete. Aber obwohl der Hamburger als reserviert und kontaktscheu gilt, wetten wir, dass nach einer Nacht wie von Roman empfohlen auf jeden Fall ein Begleiter an eurer Seite ist, der den Sonnenaufgang auf dem berühmten Fischmarkt oder am Elbstrand mit dir zusammen verbringt.

INFO

www-hamburg-tourism.de

www.hinnerk.de

HOTEL

Das 25hours HafenCity liegt zwar nicht in St. Georg oder St. Pauli, ist aber zentral dazwischen in der international beachteten neuen HafenCity angesiedelt. Mit Nachtbus und den U-Bahnen ist es stylisher und perfekter Start- und Endpunkt unheiliger Stadterkundungstouren. www.25hours-hotels.com

Foto: 25hours/Stephan Lemke

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