Sarah El Haïry: Beiläufiges Coming-out Teil ihrer Vision?

Von zwei Coming-outs von Regierungsmitgliedern innerhalb eines Monats ist eines vielleicht der Hoffnungsschimmer, auf den Frankreichs zerrüttete Jugend so lange warten musste.

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„Le coming out discret“

Die 33-Jährige Sarah El Haïry ist Mitglied in der 2007 gegründeten Partei „Mouvement démocrate“ (Demokratische Bewegung) und seit 2022 Staatssekretärin für Jugend im Bildungsministerium. Damit ist sie die jüngste amtierende Ministerin Frankreichs. Mit einer beiläufigen Erwähnung ging die Politikerin kürzlich auch als erste lesbische Ministerin Frankreichs in die Geschichtsbücher ein.

Foto: Thibaut Durand / Hans Lucas / Hans Lucas via AFP

In einem Interview mit Forbes, erschienen am 8. April, gab El Haïry bekannt, dass sie lesbisch ist. Auf die Frage, ob ihr der Hass in den sozialen Netzwerken zu schaffen mache, antwortete El Haïry, dass sie versuche, Kommentare auf Twitter nicht zu lesen, weil es nicht das wahre Leben sei. Sie habe die Entscheidung, in der Öffentlichkeit zu stehen, nun einmal getroffen. „Aber“, so El Haïry weiter,

„wenn meine Familie oder meine Partnerin betroffen sind, dann tut mir das schon weh“.

Beiläufigkeit als Adapter für Zusammenhalt?

Als Staatssekretärin für Jugend ist El Haïry für die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen, die die Bedürfnisse und Interessen von Jugendlichen in Frankreich berücksichtigen, verantwortlich. Ein besonderer Schwerpunkt ist dabei die Unterstützung von Einwandererjugendlichen, die oft mit sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert sind. Einwandererjugendliche haben es in Frankreich statistisch schwer, Arbeit zu finden, und sind Diskriminierung ausgesetzt. Dies gilt insbesondere für LGBTIQ*-Jugendliche, die doppelten Herausforderungen gegenüberstehen. Sie müssen nicht nur ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität akzeptieren und ausdrücken, sondern auch ihre kulturelle Identität und Zugehörigkeit.

Ihrer diesbezüglichen Vorbildfunktion ist sich Sarah El Haïry, die selbst marokkanische Wurzeln hat und eine enge Verbindung zu dem Land pflegt, bewusst. Sie merkt aber auch an, dass sie nur ein Beispiel von vielen sei und sein sollte: 

„Ich glaube an Alltagshelden. Das kann ein Bauunternehmer, ein Lehrer, ein Feuerwehrmann, ein Elternteil usw. sein.“

Auf Individualismus angesprochen, übt El Haïry indirekt Kritik an Identitätspolitik bzw. an dem, was die politischen Ränder darin sehen:

„Dieses Bewusstsein für die großen Probleme ist nützlich, aber ich möchte ihnen sagen: Steigen Sie in Unternehmen ein und verwandeln Sie sie, verteidigen Sie Ihre Werte, handeln Sie. Wir befinden uns in einer Phase des Bruchs mit dem Ende des Friedens in Europa, terroristischen Risiken, dem Klimawandel, der Katastrophen verursacht [...]  Angesichts dessen müssen junge Menschen in der Lage sein, diese Probleme direkt anzugehen, anstatt sie zu erleiden.“

Der „Service National Universel (SNU)“ sei ihr wichtigstes Instrument, um Ungleichheiten zu überwinden. Der 2019 unter Macron eingeführte Sozialdienst SNU ist ein verpflichtendes Programm für alle französischen Jugendlichen. Diese werden in der wichtigen Findungsphase nach der Pubertät für zwei Wochen aus ihrer gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit, ihrem sozialen Umfeld befreit und können, sollten sie Interesse haben, ihr Engagement auf freiwilliger Basis fortsetzen, indem sie sich für ein Freiwilligenprogramm wie den Service Civique anmelden oder ehrenamtlich tätig werden. 

„Le coming out discret“ ist also keine Chiffre für ein möglichst diskretes, verstecktes Leben. Es ist ein Appell für einen zwar selbstbewussten, aber nicht das Selbst im Kontrast zum Umfeld bestimmenden Umgang mit Diskriminierungsfaktoren. Ein spannender wie umstrittener Ansatz, dessen gesellschaftlicher Erfolg oder Misserfolg nicht nur die politische Karriere El Haïrys definieren wird. 

„Weder ein Geheimnis noch ein Thema“

Foto: Bertrand Guay / AFP

Ebenfalls kein abendfüllendes Thema aus seiner sexuellen Orientierung wollte wenige Wochen vor El Haïrys Coming-out der französische Arbeitsminister Olivier Dussopt bis dato machen. Am 24. März sagte Dussopt in einem Interview mit dem Magazin Têtu, er spreche zwar zum ersten Mal öffentlich über seine Homosexualität, habe sich aber in der Vergangenheit offen für die Ehe für alle und LGBTIQ*-Rechte ausgesprochen.

„Homosexuell zu sein ist nie neutral, aber man hat das Recht, für Anliegen einzutreten, sich zu engagieren, an der Debatte teilzunehmen, ohne die eigene persönliche Situation zu einem politischen Element an sich zu machen.“

Foto: Amaury Cornu / Hans Lucas / Hans Lucas via AFP

Seine Sexualität sei „weder ein Geheimnis noch ein Thema“, fuhr Dussopt fort und ging dann doch auf die „vielen homophoben Attacken“ ein, denen er insbesondere in den sozialen Medien ausgesetzt ist. Kritiker*innen werfen ihm ob dieser Aussagen vor, sein Coming-out instrumentalisiert zu haben, um von der parallel gegen den Willen der Mehrheit der Franzosen durchgeboxten Rentenreform abzulenken.

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