#Kommentar • CSD Berlin: Konkrete Hilfe für Polen, Black Lives Matter und neue Initiativen

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Und jährlich grüßt das Murmeltier ... Außerhalb der Hauptstadt stoßen die Que(e)relen der hiesigen Community schon seit Jahren nur mehr auf verständnisloses Kopfschütteln. Ärgerlich: Erfolge werden unsichtbar gemacht. Ein Kommentar. 

Über 19.000 Menschen verfolgten die etwa neunstündige Streamingveranstaltung am 25. Juli alleine auf YouTube. Parallel wurde das Programm auf dem regionalen Sender ALEX Berlin und im Radio übertragen, die Veranstalter*innen geben inklusive Social Media in den Prideweeks eine Reichweite von 650.000 Personen an.

Mit der emotionalen Wirkung von einer Million demonstrierender Menschen auf der Straße des 17. Juni zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor ist das selbstverständlich nicht vergleichbar. Angesichts der Bilder des vergangenen Wochenendes muss aber auch weiterhin – zumindest von informierter und mit den Mobilisierungsmomenten des CSD vertrauter Stelle aus gesagt werden, dass die Entscheidung für ein größtenteils digitales Programm eine richtige war.

Noch mehr trifft das zu, wenn die mit der Eheöffnung 2017 begonnene Diskussion um das „wie weiter mit den CSDs?“ in die Betrachtung einbezogen wird. Ganz zuletzt auch die seit jeher bestehende Auseinandersetzung, inwiefern Wirtschaftsunternehmen und politische Parteien Teil einer Demonstration sein sollten, die im Geiste der Stonewall Riots von 1969 durchgeführt wird.

Den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen

Weil die Community – zumindest in den (a)sozialen Netzwerken – um gezielt geframte Nebenschauplätze kreiste, wurde bis heute in der queeren Medienlandschaft nicht auf die vielfältigen Inhalte des Marathonprogramms eingegangen. Selbst altgediente Gründerväter des CSD haben es offensichtlich versäumt, dem eigentlich Ablauf des Tages beizuwohnen.

Das ist nicht nur schade, sondern in höchstem Maße ungerecht gegenüber den Teilen der Community, die Wochen und Monate das tatsächlich vielfältigste, inklusivste und politischste CSD-Programm der letzten Dekade auf die Beine stellten. Beiträge, die in diesem Umfang auf keiner Hauptbühne und bei keiner Eröffnung Platz gefunden hätten, wurden weder wahrgenommen, noch debattiert. Da nach dem CSD bekanntlich vor dem CSD ist, sollte damit spätestens jetzt angefangen werden.

Niemand hat die Absicht erst im Juli 2021 wieder über den CSD zu streiten, oder? Also los: 

Konkrete Hilfe für Polens LGBTIQ*

Nach Monaten der Vorbereitung konnte gerade noch rechtzeitig zum CSD erstmals eine zentrale, sichere Webseite online gestellt werden, die es jetzt ermöglicht den zahlreichen Solidaritätsbekundungen aus Deutschland Taten folgen zu lassen. Unter https://lgbt.support/ findet ihr eine Auflistung der relevanten Organisationen, die in dem EU-Land mutig den Homo- und Transphoben widerstand leisten. 


Black Lives Matter ist angekommen

Dass ein bisher unbeachtetes öffentliches Posting aus dem Jahr 2013 den Erkenntnisprozess über strukturellen Rassismus so plastisch vermittelbar beisteuerte, könnte man fast als Gewinn bezeichnen.

Aber nur fast, denn aufgrund dieser völlig aus dem Ruder gelaufenen Nebelkerzendiskussion über eine Dragqueen ging völlig unter, dass Black Lives Matter eine der fünf Hauptforderungen des Berliner CSD war. Das Orgateam hatte lange vor dem Gebrüll auf einer Pressekonferenz auf die Kritik der Vorjahre reagiert und mit Gruppen wie Black Brown Berlin Programm gemacht. Von Moderator*innen über Künstlerinnen bis zu den Soul of Stonewall Awards wurde auf Sichtbarkeit von queeren PoC geachtet – auch das eine echte Premiere beim CSD Berlin, in den Vorjahren war das nie mehr als Beiwerk, oder – wie es eine Vorständin damals gerne ausdrückte – „Chi Chi“. Dass diese Sichtbarkeit aufgrund einer mindestens fahrlässig organisierten Medienkampagne und der äußerst ungelenken Reaktion der CSD-Verantwortlichen um zwei namhafte PoC reduziert wurde, ist mindestens so bedauerlich, wie die Tatsache, dass Menschen wie Black Cracker oder Ikenna Amaechi unter Rechtfertigungsdruck und ihr Engagement in die Kritik gerieten.


Islam und Homosexualität 

Berlin hat eine große queere muslimische Community. Sie hat mit der Anlaufstelle für Islam und Diversity erstmals eine von der Stadt und vom Bund unterstützte (Selbst)Hilfseinrichtung. 

Heteronormative Mehrheitsgesellschaft erreicht

Zum Schluss zum Kern des Ganzen. Was ist eigentlich der Sinn und Zweck des CSD heute? Folgt man den Ausführungen seiner Gründermütter und -Väter, soll er zur gegenseitigen Versicherung und Stärkung beitragen, aber hauptsächlich in die sogenannte Mehrheitsgesellschaft hineinwirken.

Kritik gab es diesbezüglich seit Jahrzehnten daran, dass das Bild in den Leitmedien recht eindimensional daherkam, wenn es denn überhaupt eines gab. Dieses Jahr war auch das anders. In den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten und den großen Zeitungen wurde divers wie nie und umfangreich wie selten berichtet: 




Fazit

Können wir jetzt mal wieder über Inhalte diskutieren und wie wir eigentlich einen Post-Corona-CSD haben wollen? 3.500 Menschen auf der Straße sind toll. 19.000 bei YouTube auch. Aber wie schaffen wir es, möglichst viele davon auch im Kopf und im Herzen zu erreichen und das möglichst mit etwas anderem als Sekt und Technobeats? Das ist die Herausforderung der kommenden Jahre und ich ganz persönlich nehme aus 2020 mit, dass besonders die Anliegen der Initiativen und Gruppen digital besser zum Tragen kommen, als auf Pappschildern oder Monstertrucks. #HappyPride2021

*Christian Knuth

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