#INTERVIEW: Jamie Bell

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Foto: Zachary O. Ray - Own work, CC BY-SA 4.0, Wikimedia

Facettenreicher als die von Jamie Bell kann eine Schauspielerkarriere kaum sein. Als Teenager gab er sein Debüt als kleiner Balletttänzer im Sensationserfolg „Billy Elliott – I Will Dance“, anschließend war er in so unterschiedlichen Filmen wie „Dear Wendy“, „King Kong“ oder „Jane Eyre“ zu sehen. Für Steven Spielberg spielte er die Hauptrolle in „Die Abenteuer von Tim und Struppi“, für Lars von Trier stand er in „Nymphomaniac“ auf Sadomaso-Sex. In diesem Jahr war er bereits als Bernie Taupin im Elton-John-Film „Rocketman“ (ab 10.10. auf DVD) zu sehen, nun spielt der 33-Jährige, der in zweiter Ehe mit Kollegin Kate Mara verheiratet und Vater von zwei Kindern ist, in „Skin“ einen brutalen Neonazi.


Foto: 24 Bilder

Mr. Bell, in Ihrer Rolle in „Skin“ sind Sie über und über mit Tattoos übersät. Haben Sie real auch welche?

Ja, ein paar. Allerdings ist keines von denen mit irgendeiner Ideologie oder so verbunden. Sie erinnern eher an private Momente wie etwa die Geburt meines ersten Sohnes. Ich finde den Schmerz, der mit Tätowierungen einhergehen kann, ehrlich gesagt nicht ohne. Mich im Gesicht tätowieren zu lassen, könnte ich mir daher zum Beispiel echt nicht vorstellen.

Wie lange saßen Sie bei den Dreharbeiten morgens im Make-up-Stuhl, um sich all die Tätowierungen aufmalen zu lassen?

Gesicht und Hände dauerten etwa zweieinhalb Stunden. Wenn Szenen dran waren, in denen ich mit freiem Oberkörper zu sehen war, konnten es auch schon mal über fünf Stunden sein.

Foto: 24 Bilder/ Ascot Elite

Sie sind in dem Look auch raus auf die Straße gegangen. Wie waren die Reaktionen?

Das war eine interessante Erfahrung. Den ehemaligen Neonazi Bryon Widner, den ich im Film spiele, gibt es ja wirklich, und die Tattoos in seinem Gesicht ließ er sich natürlich nicht zuletzt stechen, um den Leuten Angst zu machen. Und um in Ruhe gelassen zu werden. Eigentlich hätte er sich auch „Fuck Off“ auf die Stirn tätowieren lassen können. Ich selbst fand jedenfalls interessant, dass die Leute gar nicht unbedingt so sehr gestarrt haben. Eher haben sie entweder einen Bogen um mich gemacht oder das Zeug in meinem Gesicht ganz bewusst ignoriert.

Foto: 24 Bilder/ Ascot Elite

Die Geschichte, die „Skin“ erzählt, ist verdammt starker Tobak. War dies die schwierigste Rolle Ihrer Karriere?

Es war auf jeden Fall die, auf die ich mich am gründlichsten vorbereiten musste. Angefangen mit den rein physischen Aspekten, also den Tätowierungen, aber auch Perücken oder Zahn- und Nasenprothesen. Gleichzeitig habe ich in Los Angeles aber auch mit einer Frau zusammengearbeitet, die Schauspieler psychologisch auf ihre Rollen vorbereitet. Sie ließ sich von mir meine Lebensgeschichte erzählen und erklärte mir dann, dass ich darin alles finden würde, um diese Rolle zu verkörpern. Erst wollte ich mich beschweren, schließlich habe ich mit einem brutalen Neonazi eigentlich nichts gemeinsam. Aber dann zeigte sie mir Momente, Erfahrungen und Beziehungen in meinem Leben, die eben doch in irgendeiner Weise mit denen von Bryon korrespondierten. Das war unglaublich hilfreich. Genauso natürlich wie meine persönliche Begegnung mit ihm selbst.

Sie haben ihn getroffen?

Ja, er lebt im Zeugenschutzprogramm, aber für mich wurde ein Treffen arrangiert und ich durfte ihn besuchen. Vier Tage lang saß ich bei ihm in der Garage und er rauchte in der Zeit ungefähr 3.000 Zigaretten. Ich habe das kaum ausgehalten: Kaum war eine Packung alle, wurde die nächste aufgemacht. Am liebsten wollte ich immer die Garagentür aufreißen und frische Luft hereinlassen, aber dafür war er viel zu nervös, weil er ständig fürchtet, erschossen zu werden. Vor der Vergeltung seiner ehemaligen Kameraden hat er wirklich Angst, was mich dann auch nicht sonderlich sicher fühlen ließ.

Wie hat er auf Sie gewirkt?

Zunächst einmal war ich erstaunt, wie wenig man noch von den Tattoos im Gesicht sieht. Er hat sie sich ja entfernen lassen, und mehr als ein paar Hautverfärbungen sind wirklich nicht zu sehen. Ansonsten war er ausgesprochen eloquent und kultiviert, ein guter Gastgeber und interessierter Gesprächspartner. Seine Frau hat er mir auch vorgestellt. Er bereut seine Vergangenheit zutiefst und weiß genau, dass er die Schuld, die er auf sich geladen hat, sein Leben lang nicht loswerden wird. Ich dachte die ganze Zeit darüber nach, wie anders sein Leben eigentlich hätte verlaufen können, denn er hätte das Zeug gehabt zu einem positiven, glücklichen Leben. Und im gleichen Atemzug habe ich mir dann die Frage gestellt, wie schnell wohl auch mein Leben ein ganz anderes hätte werden können, wäre ich nicht als Junge für diesen wunderbaren Tanzfilm namens „Billy Elliott“ besetzt worden. Eine falsche Abzweigung genügt ja meistens schon ...

Foto: ASCOT ELITE Filmverleih GmbH

Können Sie die Negativität einer solchen Rolle von der eigenen Psyche fernhalten oder färbt die während der Dreharbeiten ab?

Natürlich muss man versuchen, all die Emotionen der Figur möglichst nicht zu nah an sich heranzulassen. Und sich vor Augen zu führen, dass mein Leben ein ganz anderes ist und ich einen kleinen Sohn habe, für den ich ein toller Papa sein will, hilft dabei schon mal. Aber gleichzeitig kann man sich natürlich nicht vollkommen frei davon machen, schließlich muss ich die Rolle ja mit Haut und Haar verkörpern. Das Körperliche ist in diesem Fall sehr wichtig gewesen, auch jenseits der Tattoos. Ich war viel im Gym, um mich so aufzupumpen, wie es Skinheads oft tun. Außerdem wollte ich unbedingt zunehmen, deswegen habe ich ziemlich viel ungesundes Zeug gegessen, Erdnussbutter, Eis, all solche Sachen. All der Zucker hat mich echt depressiv gemacht. Und allzu erfolgreich war die Sache auch nicht, denn kaum fingen wir dann mit dem eigentlichen Dreh an, purzelten automatisch wieder die Kilos. Ich habe wirklich keine Ahnung, wie mein Kollege Christian Bale das mit seinem ständigen Ab- und Zunehmen für seine Rollen immer macht. Ich fand das echt unglaublich anstrengend und mühsam.

Foto: Universal Pictures

Hatten Sie eigentlich gar keine Bedenken, einen solchen Neonazi zu spielen?

Oh doch, und wie. Insgesamt habe ich dem Regisseur Guy Nattiv sicherlich viermal abgesagt. Nicht zuletzt, als im Sommer 2017 diese unfassbare rechtsextreme Demonstration durch Charlottesville zog. Ich hatte das Gefühl, es könnte unangebracht sein, eine solche Geschichte zu erzählen. Warum sollten wir diese Menschen noch mehr ins Rampenlicht rücken? Wir wissen, dass es diese Szene gibt, wir sehen es auf den Titelblättern der Zeitungen. Eine Frau ist in Charlottesville getötet worden, jemand hatte seine Tochter verloren. Muss man das noch mit einem Kinofilm befeuern? Aber dann verebbten die Schlagzeilen und ich begann wieder zu überlegen, ob es nicht doch Sinn machen könnte, davon zu erzählen, dass sich Menschen ändern können. Und dass es gerade in Zeiten wie diesen hilfreich sein könnte, Geschichten zu sehen, die auch davon handeln, welche Wirkung die Güte und Großzügigkeit von Fremden haben kann. Denn wir sehen ja auch Menschen wie den Antifaschisten Daryle Lamont Jenkins, die Bryon dabei geholfen haben, sein Leben zu verändern.

Sie haben „Billy Elliott“ bereits erwähnt. Der Film ist 19 Jahre her, damals waren Sie 14 Jahre alt und spielten Ihre erste Rolle. Hatten Sie einen Plan, wie Ihnen der Übergang vom Kinderstar zum erwachsenen Schauspieler gelingen würde?

Absolut nicht. Aber ich war immer von guten Leuten umgeben, die mich in die richtige Richtung gelenkt haben. Ihnen und mir ging es immer eher um eine langfristige Karriere als um schnellen Erfolg oder so. Deswegen habe ich stets versucht, mit spannenden Filmemachern zu arbeiten und interessante, auch kleine Rollen zu spielen, und mich nicht als Hauptdarsteller in irgendwelchem Mist verheizen zu lassen.

*Interview: Jonathan Fink

www.skin-film.de

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