Christina Aguileras Befreiung

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Foto: Milan Zrnic

Wie viel mehr weniger sein kann (und wie lange man manchmal braucht, um das zu erkennen und zu verstehen), wie viel klarer und einfacher die Welt sein kann, wenn man einfach all die dicken Schichten Schminke und all das alltägliche Verstellen und Anpassen sein lässt, beweist uns gerade ausgerechnet Christina Aguilera.

Und auch sie musste erst 37 werden, um diese Freiheit zu entdecken und schätzen zu lernen. „Ein großer Durchbruch war für mich zu versuchen, die Masken und die Perfektion loszulassen“, sagt sie, und das war für jemanden mit ihrem Background sicher keine einfache Einsicht. Die neue Christina jedenfalls hat kein auffallendes Burleske-Image mehr, sie trägt keine Frisuren, die aussehen, als hätten Kunsthandwerker eine Woche daran gearbeitet, sie hat nichts mehr an sich, das an die alten Versuche erinnert, Britney Spears an Verruchtheit zu übertreffen, es gibt keinen Kampf mehr gegen Hater oder andere Künstler, mit denen sie mal Beef hatte (zum Beispiel P!nk) … Nein, Christina hat zu viel Zeit ihrer Karriere damit verbracht, etwas anderes als sie selbst zu sein, etwas für die Welt zu spielen und fremde Erwartungen zu erfüllen. Popstar zu sein ist ein Höllenjob. Eine Diva darzustellen noch viel mehr. Dabei hat sie sich selbst immer schon als etwas ganz Einfaches angesehen – jetzt mehr denn je: Sie ist jemand, der Soul sing, sagt sie, und außerdem liebt sie einen guten Hip-Hop-Beat. Und ab einem bestimmten Punkt im Leben kann man dann auch einfach all das Theater lassen und sich seinen Leidenschaften hingeben … man selbst sein.

Aber dazu war nicht nur diese innere Befreiung nötig. Wenn man bei The Voice als Coach arbeitet, dann heißt das in den USA – im Gegensatz zu hier –, dass die aktive Musikkarriere nicht mehr so wichtig ist, zumindest nicht mehr im Fokus steht. Von 2011 bis 2016 war Christina Mitglied in der Jury und einer der Coaches, deshalb führte sie ein Leben im Fernsehmodus. Was sie dort so lange hielt, waren unter anderem auch ihre Kinder, denn die Regelmäßigkeit und Planbarkeit des Jobs harmonierten sehr gut mit dem Leben als Mutter. Doch nicht nur ihre Kandidaten, auch sie selbst musste vor der Kamera funktionieren. Was sie natürlich auch tat – immerhin begann auch ihr Weg Mitte der Neunziger als Teenager beim Mickey Mouse Club (ebenso wie der von Britney und Justin Timberlake). Aber kurz darauf wurde die Musik zum Mittelpunkt ihrer Existenz und sie mit „Genie In A Bottle“ 1999 ein Star, der weltweit mehr als 43 Millionen Tonträger verkaufen sollte. Doch ihr letztes Album liegt nun schon lange zurück und mit jedem Jahr bei The Voice wurde ihr deutlicher, dass es bei diesem Format darum geht, eine Show aufzuziehen, in der nur gutes Fernsehen und nicht gute Musik zählt. Währenddessen musste Christina trotzdem immer makellos sein, es gab Regeln, die zu befolgen waren, und keinen Raum für kreative Ausbrüche. Und genau deswegen wurde der Wunsch, dort aufzuhören und wieder neu anzufangen, irgendwann übermächtig.

Foto: Milan Zrnic

Dieser Situation nun haben wir also Christinas erstes Album nach gut sechs Jahren zu verdanken, und passenderweise hat sie es „Liberation“ – Befreiung – genannt. „Wenn du älter wirst, machst du deinen Frieden mit deinen Unvollkommenheiten und mit dir selbst – was es dir erlaubt loszulassen.“ Was aber nicht bedeutet, dass sie etwas bereut. Was gewesen ist, ist einfach nur Vergangenheit. Und ihre neue Freiheit hat dabei auch nicht unbedingt etwas mit Erwachsenwerden zu tun – sie sieht sich immer noch als Mädchen, denn Mädchen haben eben eher diese Freiheit zu tun, was sie wollen. Paradoxerweise hat sie sich ihr Leben lang aber auch gleichzeitig als jemanden wahrgenommen, der schon immer eine alte Lady in einem jungen Körper war. Doch in einem Menschen ist mehr als genug Platz für ein paar gelebte Gegensätze. Man muss eben nur seinen Frieden damit machen. „… ich bin verwundbar, ich bin stark …“, sagt sie deshalb wie selbstverständlich und schaut mit ihren neuen Songs in den Spiegel. Und dort wird die ungeschminkte Christina für viele kaum wiederzuerkennen sein, denn auch sie selbst hat sich in den letzten zwei Jahren neu entdeckt – und das ist nicht nur metaphorisch gemeint: Nicht umsonst postet sie seit Wochen in den sozialen Medien ihre Fotos in für ihre Verhältnisse fast minimalistischem Stil. Keine großen Gesten, sondern einfache Ehrlichkeit und Klarheit.

Die neue Musik von Xtina hingegen hält sich absolut nicht zurück, ganz im Gegenteil. Schon die erste Single „Accelerate“ ist ein ausgemachter, wenn auch gar nicht mal so gefälliger Banger, der sich mit Ty Dolla $ign und 2 Chainz zwei der erfolgreichsten Rapper der letzten Jahre ans Mikrofon holt. Produziert wurde der Track übrigens auch gleich von Kanye West, den Christina im Studio von Rick Rubin getroffen hat. Aus diesem kleinen Moment entstand dann auch noch ein weiterer Song, „Maria”, der Aguileras Liebling auf dem Album geworden ist. Kein Wunder, handelt er doch letztlich von ihr selbst und ihrer Befreiung – Maria ist ihr zweiter Vorname. Fast ebenso wichtig ist ihr das Lied „Fall In Line“, in dem sie zusammen mit Demi Lovato singt (welche Christina – wenig überraschend – als einen ihrer größten Einflüsse und Heldinnen nennt). Christina schrieb den Text übrigens schon lange vor #MeToo und #TimesUp, aber mit genau den dort angesprochenen Problemen im Kopf. „Ich musste meiner Mutter zusehen, wie sie sich unterordnete … oder sie wurde geschlagen“, erzählte sie vor kurzem, und in einem Tweet fasste sie ihre Motivation und an wen sich der Track richtet so zusammen: „An jeden, der zum Schweigen gebracht und unterdrückt wurde, an all die, die Wahrheit suchen und mutig denken … befreit eure Stimmen und brecht aus, gebt niemals nach und passt euch nie an.“

Dieses Statement steht dann auch ganz passend für „Liberation“ an sich. Eine neue Christina Aguilera ist zurück. Schön, dass sie sich wieder selbst gefunden hat. *fis

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