„Paranoïa, Angels, True Love“ und Madonna

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Foto: Jasa Muller

Christine and the Queens ist frühmorgens aus Paris nach Berlin geflogen. Nun sitzt der nicht-binäre Sänger in einem Konferenzraum seines Labels, gekleidet in einen schwarzen Anzug. Seine Haare sind streng nach hinten gegelt. Er wirkt erstaunlich munter, als er über sein neues Album „Paranoïa, Angels, True Love“ redet.

Dieses Werk, sagt er, sei wie ein Triptychon. Es bestehe aus drei Teilen: Paranoia, Engel, wahre Liebe. In mehreren Liedern mimt Madonna eine der abstrakten Engelsfiguren namens Big Eye: „Sie ist die allwissende Stimme – ambivalent und mysteriös.“ In dieser Rolle singt sie nicht etwa, sie spricht: „Statt ihr Refrains zum Singen zu schicken, gab ich ihr Zeilen zum Einsprechen. Ich wollte die Schauspielerin Madonna einbinden.“ Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. Im buchstäblichen Sinne über Nacht lieferte die Queen of Pop ihren Beitrag. Dabei blieb es aber nicht. Nach dieser Kooperation lud Madonna ihren Kollegen zu sich nach Hause ein. Das war ein unvergessliches Erlebnis für den 35-Jährigen.

Madonna“, schwärmt er, „hat das Flair eines britischen Dandys. Obwohl sie ein großer Popstar ist, beobachtet sie die Gesellschaft genau.“

Foto: Paul Kooiker

Neben Madonna gibt es noch einen weiteren Albumgast: die Rap-Elektro-Künstlerin 070 Shake. Sie stößt bei dem Lied „True Love“ zu Chris. Es lebt von einer vibrierenden Synthesizer-Melodie und einem immer druckvoller werdenden Basslauf. Christine-and-the-Queens-Songs sind meistens zeitgemäß, teilweise sogar futuristisch. Aber nicht nur. Ein Sample aus Marvin Gayes „Feel All My Love Tonight“ schlängelt sich durch die Nummer „Tears Can Be So Soft“. Sie schlägt musikalisch einen Bogen zum Triphop, vor allem zu Portishead. Inhaltlich geht es um die befreiende Wirkung von Tränen: „Manchmal reichen Worte nicht, dann muss Wasser fließen.“

Es taucht mehrfach auf der neuen Platte auf, nicht nur in Form von Tränen, denn für Chris hat Wasser eine besondere Bedeutung: „Es birgt Wissen in sich und sorgt dafür, dass man anders denkt.“ Der Musiker hat sogar schon im Wasser gebetet. Etwa nach dem Tod seiner Mutter: „Sie zu verlieren, das war mit das Schmerzhafteste, was mir jemals widerfahren ist.“ Seitdem sie nicht mehr lebt, verwendet Chris, geboren als Héloise Letissier, das Pronomen er: „Ich bin nun mehr ich selbst.“ Das brachte einige Veränderungen mit sich: „Zuvor konnte ich mich nicht genug lieben, um zu glauben, dass ich Liebe verdient haben könnte. Jetzt sehe ich wahre Liebe durchaus als Möglichkeit für mich.“

Was entscheidend zu seinem Selbstfindungsprozess beigetragen hat: immer wieder eine andere Persona vorzustellen – von Christine and the Queens über Chris bis zu Redcar: „Mit jedem neuen Namen bin ich ein Stück weiter bei mir angekommen.“ Jeder Mensch, glaubt er, habe viele Gesichter: „Sprechen wir genauso mit unserer Mutter wie mit unserem Bäcker? Nein.“ Eine gewisse Wandlungsfähigkeit ist im Alltag also allen Menschen zu eigen. Und doch hat man es nicht leicht, wenn man deutlich aus der Masse heraussticht – sei es als Transsexueller oder als Homosexueller. „Es macht mich manchmal richtig wütend, dass wir in unserer Gesellschaft immer noch keine wirkliche Gleichberechtigung haben“, ereifert sich Chris. „Politiker sind einfach zu wankelmütig. Mal gehen sie einen Schritt vor, dann machen sie plötzlich einen Rückschritt. Alles bewegt sich so langsam.“ *Dagmar Leischow

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