Melissa Etheridge: „Ich war nicht immer treu“

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Foto: E. Miranda

„One Way Out“ ist zwar ein neues Album der 60 Jahre jungen Melissa Etheridge. Die Songs allerdings sind halb so alt wie die Musikerin selbst und klingen dementsprechend ungestüm und wild. Ein kurzes Telefonat.

„Hallo, hier ist Melissa“, meldet sich Melissa Etheridge aus Los Angeles am Telefon. Sie ist keine Frau der langen Umschweife „Die Musik hat mir in den zurückliegenden ein bis zwei Jahren geholfen, gesund zu bleiben“, sagt sie gleich zu Beginn. „Ich wüsste nicht, was ich hätte tun sollen oder was aus mir geworden wäre, hätte ich nicht meine Gitarre, meine Songs und meine Stimme gehabt.“ Bis zu fünf Mal pro Woche trat sie in der Phase der tiefen Corona-Tristesse in ihrer Garage auf, unterstützt einzig und allein von ihrer Frau Linda Wallem.

Foto: L. Dukoff

Die Pandemie war schon hart genug, doch Etheridge (60) musste außerdem einen persönlichen Schicksalsschlag verkraften. Ihr Sohn Beckett, den sie mit ihrer Ex-Frau Julie Cypher bekam und dessen leiblicher Vater David Crosby war, starb mit 21 Jahren an den Folgen einer Tablettensucht. Neue Lieder habe sie Veröffentlichung ihres jüngsten Studioalbums „The Medicine Show“ unter den Umständen nicht geschrieben. Dass mit „One Way Out“ jetzt dennoch ein neues Werk erscheint, verdankt Melissa ihrem Archivierungs- und Aufräumtrieb. Etheridge wühlte sich nach und nach durch ihr bestens bestücktes Archiv und förderte jene neun Songs zutage, die sich wirklich top anhören. Knusprig und wild, richtig schön rockig. Bei „Save Myself“ zum Beispiel meint man, Tina Turner rauszuhören, und dann natürlich auch noch die Stones, und zwar in Form des „Sympathy For the Devil“-Hu-Hus, minimal variiert. Der Titelsong ist einfach total knackig, „As Cool As You Try“ ist ein rockharmonischer Song, den man früher, als die Sender solche Musik noch spielten, als Radiohit bezeichnet hätte. „For The Last Time“ ist ein richtig schöner Bluessong, „Wild Wild Wild“ verträumt melancholisch und stimmlich stark, und die Midtempo-Nummer „I’m No Angel Myself“ textlich keck. „In dem Song beschreibe ich das Treffen mit einer alten Freundin, die mit meiner damaligen Lebensgefährtin geschlafen hat. Und ich stelle fest, dass auch sie unter Beziehungsproblemen leidet, und zwar heftigen.“ An dieser Stelle lacht Etheridge. Das Lachen wird noch lauter, als sie sagt: „Aber keine Sorge, auch ich war bei weitem nicht immer treu.“

Man fragt sich natürlich, warum diese Lieder nicht damals schon rausgekommen sind, als Melissa sie geschrieben hat, in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern nämlich, schon nach ihrem Debüt, aber noch vor dem ganz großen Mainstreamerfolg mit dem „Yes I Am“-Album 1993. Die Antwort: „Ich dachte, die Songs wären zu ihrer Zeit etwas zu forsch und direkt gewesen. Ich war persönlich noch nicht so weit.“ Was Melissa meint: Die Lieder erzählen von lesbischer Liebe, doch sie selbst hatte sich noch nicht geoutet, das geschah erst parallel zu „Yes I Am“. Seitdem freilich ist Melissa Etheridge, die sich nach mühsamem Beginn als Bar- und Kleinclubsängerin mit zeitlosen Hits wie „Come to My Window“ und „Like the Way I Do“ zeitweise in die Riege der Stadionrockerinnen emporgekämpft hatte, eine unvermindert unerschrockene Ikone der LGBTQ-Bewegung sowie eine Aktivistin für linke Politik, Klima- und Tierschutz sowie die medizinische Nutzung von Cannabis. „Ich denke, ich habe das alles ganz gut hinbekommen“, fasst sie ihr Schaffen zusammen. „Als ich mein Coming Out hatte, gab es kaum offen Homosexuelle in der Rock- und Popmusik. Heute hebt niemand mehr eine Augenbraue, wenn sich jemand dazu bekennt, queer zu sein. Wenn du möchtest, kannst du mich gerne eine Pionierin nennen. Ich bin definitiv stolz und dankbar, hunderttausenden von Menschen den Mut gegeben zu haben, offen und angstfrei als diejenigen zu leben, die sie sind.“ *Interview: Steffen Rüth

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