Ausstellung: Effizienz oder Verschwendung?

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Foto: Anja Jahn

Die Ausstellung „Tempo! Alle Zeit der Welt“ setzt menschliches Zeitmanagement mit den Geschwindigkeiten in der Natur in Beziehung. Dabei wird deutlich: Der Mensch ist gleichzeitig Initiator und Opfer der generellen Beschleunigung.

Im Erdgeschoss startet die Ausstellung wissenschaftlich: Kohlenstoff steht im Fokus. Die chemische Verbindung steckt in den meisten natürlichen wie technischen Verbindungen, sie ermöglicht das Leben – und kann in Form von Kohlendioxid gleichzeitig bedrohlich für unsere Welt werden. Rund 10 Millionen Jahre gibt es Kohlenstoff auf der Erde – und in nur 150 Jahren Industrialisierung hat es die Menschheit geschafft, die Konzentration von CO2 derart zu steigern, dass das gesunde Weltklima heute gefährdet ist. Die Geschichte des Kohlenstoffs steht damit symbolisch für die Beschleunigung der Welt und die daraus resultierenden Folgen.

Dass die Natur oft in ganz anderen Zeitdimensionen als der Mensch mit seinem 24-Stunde-Rhythmus lebt, zeigen auch die Fotografien von Racel Sussmann. Ihre Serie „The oldest living things in the world“ zeigt Pflanzen, die über 2.000 Jahre alt sind, wie der Llaneta-Busch, der in den Hochanden zu Hause ist, extrem langsam wächst und sich über bis zu 35 Quadratkilometer ausbreiten kann. Weil er als Brennholz genutzt wird, ist die Pflanze vom Aussterben bedroht.

Foto: Rachel Sussmann

Poetischer wird es in der ersten Etage: Zwei raumfüllende Filmprojektionen lassen die Auswirkungen von Geschwindigkeit körperlich spürbar erleben. „C’était un rende-vous“ von Claude Lelouch ist eine aus der Fahrerperspektive gedrehte rasante Fahrt durch die Straßen von Paris. Ein Geschwindigkeitsrausch, der einen nach knapp neun Minuten allein vom Zuschauen ziemlich gestresst zurücklässt. Nebenan das genaue Gegenteil: Melanie Wiora hat für ihre Videoarbeit „Turmoil“ („Aufruhr“) Meereswellen an der isländischen Küste in extremer Zeitlupe gefilmt; damit können kleinste Wasserbewegungen, die sonst einen Bruchteil einer Sekunde dauern, genau verfolgt werden – und man kann außerdem in den positiven Effekten der Entschleunigung regelrecht baden.

In diesem Zusammenhang sehr sympathisch ist auch die eigens für die Ausstellung geschaffene Arbeit „Sleep Study“ des New Yorker Künstlerduos Tega Brain und Sam Lavigne. Entstanden in der Coronakrise – die mit den Shut- und Lockdowns quasi als Nebeneffekt eine kurzzeitige Verbesserung des Weltklimas zur Folge hatte – wird in „Sleep Study“ die Zeit, die der Mensch für Schlaf, Arbeit und Freizeit nutzt, in Relation zur Klimakrise gesetzt; die Idee: Wäre das Weltklima besser, wenn wir mehr schlafen würden? Ein zumindest gedanklich reizvolles Experiment, dass Besucher*innen mit der „Sleep Study“-App für einen Zeitraum von drei Jahren zu einem Projektversuch einlädt, die eigene Schlafdauer zu erhöhen. „Sleep Study“ kann auch als Kapitalismuskritik gelesen werden: Kritik an einem System, das Ruhe, Nichtstun und natürliche Grenzen nicht wertschätzt.

Foto: Anja Jahn

„ Tempo! Alle Zeit der Welt“ ist eine kurzweilige Ausstellung, die mit ihrer sorgfältigen Auswahl und den vielen interaktiven Angeboten unterhaltend zum Nachdenken anregt. Die Frage, die dabei zentral im Raum steht: Bedeutet gutes Zeitmanagement immer Effizienz – oder ist die Verschwendung das Optimum der Zeitnutzung?

Die Ausstellung wird von einem umfangreichen Rahmenprogramm begleitet; unser Tipp: die interaktiven Führungen des Kunsthistorikers Pascal Heß am 8., 22. und 25. Januar, die das schwer fassbare Phänomen Zeit in der Ausstellung körperlich und intellektuell erfahrbar machen.

Noch bis 6.2., Museum Sinclair Haus, Löwengasse 15, Bad Homburg, www.kunst-und-natur.de

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