Zwischen den Zeilen

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Das Verschlagworten war im analogen Zeitalter vor allem eine unliebsame Fleißaufgabe von Bibliothekarinnen und Archivaren. Und dabei doch gleichzeitig eine hohe Kunst, mit der durch das präzise Auszeichnen mit wenigen, aber treffenden Stichworten, Wissen, Inhalte und Objekte in den Weiten der Regalmeter und Depots wieder auffindbar waren.

Schallendes Gelächter hätte vor kaum mehr als zehn Jahren durch die blankpolierten Gänge der Büchereien gehallt, hätte jemand die Voraussage geäußert, im Jahr 2018 verstünden sich bereits vorpubertäre Teenager auf das korrekte und durchdachte Setzen von Schlagwörtern.

Sogar freiwillig und mit vorangestelltem Rautenzeichen.

Und doch ist genau das heute der Fall.

Denn ohne die richtige Indexierung durch raffinierte, wortspielerische Hashtags (#) ist das eigene Selfie in den Sozialen Medien kaum auffindbar und damit gleichsam wertlos.

Auch Produktetiketten, Nachrichtensendungen und Werbeplakate nennen längst bereitwillig eine #-Parole, unter der man die eigene Zielgruppe versammeln, mit ihr diskutieren und an sich binden möchte.

Bezüglich Köderfunktion und Haltekraft ist der Hashtag des 21. Jahrhunderts also schlichtweg das digitale Gegenüber zum bereits vor etwa 20.000 Jahren erfundenen Angelhaken.

Der Verdacht liegt damit nahe, dass sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrer prägnanten Rauten-Geste längst selbst verschlagwortet hat.

Das wäre immerhin sehr zeitgemäß und vielleicht ist ja doch nicht alles Neuland für sie, was da im World Wide Web so vor sich geht. Auch wenn sie kein Digital Native – keine digitale Eingeborene ist, die nie eine Welt ohne Internet und Smartphone kennengelernt hat.

Die Geburtenjahrgänger der 90er Jahre gehören jedoch bereits dazu.

Die Klappe als App

Ohne hier besonders weihevoll klingen zu wollen, aber:  Wie tief der Einschnitt zwischen analoger und digitaler Zeit tatsächlich ist, können wir, die noch mitten im Spagat darüberstehen kaum erkennen. Und auch wenn das Wort „Neuland“  aus dem Mund der Kanzlerin putzig geklungen haben mag, ist das Zeitalter der Digitalisierung auch für uns terra incognita – unbekanntes Terrain.

Für die schwule Szene war das Aufkommen von Online-Dating-Plattformen in jedem Fall eine Zäsur, die die Landschaft einschlägiger Bars, Clubs und Partys in den letzten Jahrzehnten gnadenlos ausgedünnt hat. 

Ein bisschen schauen, was so im Angebot ist, ein wenig flirten, schneller Sex und eventuell eine Option auf was Festeres –das  war früher im Wesentlichen den schwulen Kneipen, Discos und Outdoor-Treffpunkten vorbehalten. Heute gibt es die Klappe als App. Überall verfügbar, kostenlos und anonym.

Was es jedoch nicht als downloadbare Anwendung für das Smartphone gibt: Subkultur, geschützte Räume um sich selbst auszuprobieren und Gemeinschaft im Sinne einer Community, die nicht nur durch die Verwendung des gleichen Hashtags beliebig zueinander gefunden hat.

Jede Zeit bringt ihre eigenen Berufe hervor und jede darauf folgende löst einige davon ab um wiederum ihre eigenen hervorzubringen. So ist es dem Wagner und dem Köhler ergangen. Und auch die, die für die Herstellung von Teer- und Terpentin Baumrinden anschnitten und deshalb „Harzer“ genannt wurden, gibt es so nicht mehr.

Der „Hartzer“ von heute hat damit nichts mehr zu tun.

Influenza statt Influencer

Dafür gibt es heute den Erwerbszweig der YouTuber, die mit Videoclips unterschiedlicher Qualität und den Einnahmen aus mancherlei darin eingewobener Werbung bisweilen sogar zu Wohlstand gelangen.

Foto: flickr Nutzer/Mike Licht/CC BY 2.0

Noch niederschwelliger ist der neulich schon einmal erwähnte Beruf des Influencers, also eines Beeinflussers, der meist auf der Smartphone-Bilder-App Instagram Fotos von sich mit schicken Dingen präsentiert, die ihm genau zu diesem Zweck kostenlos und zum Behalten von den Herstellerfirmen zur Verfügung gestellt wurden. Das tun jene Unternehmen in der Hoffnung, dass sich irgendeiner der treuen Follower des Beinflussers auch mal sowas für Geld kaufen wird.

Wie so oft gibt es auch hierfür einen schwulen Markt und die Hashtags mit #gay….  am Anfang, unter denen ansehnliche Jungs und Männer in der Hoffnung auf möglichst große Reichweite ihrer Bilder präsentieren, sind mannigfaltig.

Mit echter zwischenmenschlicher Beziehungsebe hat das natürlich alles nichts mehr zu tun, auch wenn symbolisch Herzchen als Ausdruck der Anerkennung vergeben werden.

Die sind aber bloß ähnlich unverfänglich wie die dutzendfachen Küsschen, die man in der echten Welt der schwulen Szene-Bars unter den Anwesenden austeilt und bekommt.

Auch dadurch wird man nicht zum gutbezahlten Influencer.

Viel wahrscheinlicher in den ersten Monaten dieses Jahres war vielmehr eine durch Küsschen eingefangene Influenza.

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