Guadalajara: Liebe zum Leben

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Foto: Thomas Abeltshauer

Die mexikanische Metropole Guadalajara ist bekannt für den Tequila, der in der Gegend gebrannt wird. Doch kaum jemand weiß, dass sie auch als heimliche Homo-Hauptstadt Mexikos gilt. Gleichzeitig ist die Stadt Heimat eines einmaligen Filmfestivals.

Nirgendwo ist der Tod fröhlicher als in Guadalajara. Ob in den Trödelläden des Künstlerviertels Tlaquepaque, in den engen Gassen des fiebrigen Libertad-Marktes im Herzen der Stadt oder als Graffiti im Szenekiez Chapultepec – überall grinsen einen buntbemalte Totenköpfe und festlich gekleidete Skelette in allen Größen und Formen an. Sie erinnern daran, dass das Leben vergänglich ist. Für die Mexikaner ist das offenbar kein Problem, sondern eher ein Ansporn, die Tage auf dieser Erde möglichst intensiv und in vollen Zügen zu genießen. Diese Lebenslust macht auch die zweitgrößte Stadt Mexikos mit ihren rund 1,5 Millionen Einwohnern zu einer quirligen Metropole.

Daran haben nicht zuletzt Männer wie Pavel Cortés ihren Anteil. Der 38-Jährige leitet seit sechs Jahren den Premio Maguey innerhalb des Filmfestivals von Guadalajara. Anders als etwa der Teddy Award, der einem schwul-lesbischen Film innerhalb der Berlinale verliehen wird, werden ausgewählte queere Filme für den Premio Maguey in einer eigenen Sektion gezeigt, in deren Rahmen der Preis dann auch verliehen wird. Das ist bei einem großen Filmfestival weltweit einmalig – und macht Guadalajara zu einem der Hotspots schwul-lesbischen Filmschaffens. „Wir wollen ein Forum bieten, um LGBTTTI-Filme aus aller Welt zu zeigen und Vielfalt und Akzeptanz zu fördern“, erklärt Pavel beim Lunch im lauschigem Hofgarten des Bruna, einem hippen Restaurant im Zentrum der Stadt. Die diesjährige Festival-Ausgabe stand ganz im Zeichen des Gastlandes Deutschland, sagt Pavel. „Wir hatten Filmemacher wie Jakob M. Erwa, den Regisseur von „Die Mitte der Welt“, und Kultfilmer Bruce LaBruce eingeladen. Außerdem gab es eine Fassbinder-Hommage.“ Aber auch Themen ohne direkten Filmbezug fanden ein interessiertes Publikum, etwa ein Gespräch mit der kubanischen Aktivistin Mariela Castro, der Nichte Fidel Castros. Sie setzt sich seit Jahren für die Rechte queerer Menschen in Kuba ein. Engagiert und mitreißend erzählte die 55-Jährige davon, wie sie die sozialistische Altherrengarde davon überzeugte, für mehr Gleichberechtigung etwa für Transgendermenschen auf der Insel zu sorgen. „Wir finden es wichtig, jemandem wie ihr ein Podium zu bieten“, sagt Pavel. „Der Kampf für Gleichberechtigung ist in Mittel- und Lateinamerika noch lange nicht zu Ende.“

Foto: Pixabay

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Auch in Mexiko gibt es noch einiges zu tun. Als die mexikanische Bundesregierung im vergangenen Jahr die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen wollte, kam es landesweit zu Protesten. Das Parlament votierte im November 2016 schließlich dagegen, auch wenn Mexiko-Stadt und einige Bundesstaaten wie Jalisco, dessen Hauptstadt Guadalajara ist, die Öffnung der Ehe längst vollzogen haben. Doch Mexiko insgesamt ist nach wie vor stark von den Moralvorstellungen des hispanischen Katholizismus und dem Geschlechterbild des Machismo geprägt. Abseits der beiden Großstädte sieht die Situation für Schwule noch immer ziemlich finster aus. Nur Puerto Vallarta an der Pazifikküste, ebenfalls im Bundesstaat Jalisco gelegen und rund 30 Flugminuten von Guadalajara entfernt, ist noch eine Ausnahme. In dem Badeparadies mit seinem angesagten Gay Beach und den zahlreichen Clubs und Open-Air-Bars haben Pavel und sein junges, enthusiastisches Team mittlerweile auch einen Ableger ihres Festivals etabliert.

Guadalajara selbst ist indes auch jenseits des Filmfestivals im März eine der lebendigsten und offensten Metropolen südlich der USA. Rund um die Straßen Madero und Prisciliano Sánchez hat sich ein Homoviertel mit zahlreichen Bars und Clubs entwickelt. Es gibt höchst unterschiedliche Läden für Besucher jeden Geschmacks, vom edlen Envy Club mit Typen im Anzug über schrammelige Drag-Show-Bars wie das YeYe mit Performances am Rande des Wahnsinns bis hin zu Cruising-Bars mit Darkroom wie dem Voltio, in dem sich auch so mancher geile Kerl eine Auszeit vom heterosexuellen Eheleben nimmt. Die Szene ist selbstbewusst und offen, im Juni findet die Gay Pride Week statt, die hier Marcha del Orgullo Guadalajara heißt, und mit Parade und Festival Zehntausende anzieht. Einer der umtriebigsten Macher der schwulen Szene ist Paulo Orendain. Der Impresario, Radiomoderator und Partyveranstalter sorgt für die glamourösesten und exzessivsten Feten der Stadt, in wechselnden Locations. Wenn der 38-Jährige ruft, kommen sie alle: die Schönen und Reichen, die Celebritys und – natürlich – die Schwulen. So auch bei der Abschlussparty des Premio Maguey im Club Edison, der mit mehr als tausend feier- und tanzwütigen Gästen aus allen Nähten platze. „Ich mache Partys, auf die ich selber gerne gehe“, lautet Paulos ebenso simples wie bewährtes Erfolgsgeheimnis.

Wer tagsüber den Rausch der letzten Nacht ausschläft, verpasst allerdings ein mindestens ebenso spannendes, aber ganz anderes Guadalajara. Je nachdem, mit wem man redet, wird die Stadt als mexikanisches San Francisco (für Gays), als mexikanisches Florenz (für Kunstliebhaber), als Perle des Westens (für Architekturfans) oder als mexikanisches Silicon Valley (für Techies und IT-Geeks) bezeichnet. Schon die so unterschiedlichen Charakterisierungen zeigen: Letztlich lässt sich Guadalajara mit nichts vergleichen. Ganze Straßenzüge der Stadt erinnern mit ihrem spanischen Kolonialstil an frühere Zeiten, doch den Häusern hauchen oft hippe Bars und Shops neues Leben ein. Hier gibt es beides: modernes urbanes Leben mit Cafés, Galerien und einer großen Kreativszene im Zentrum, zugleich schätzen die Stadtbewohner ihre Traditionen. Stolz sind sie auf den Mariachi, eine regionale Form von Volksmusik mit extrem ansteckenden Tanzrhythmen, die längst sinnbildlich für ganz Mexiko steht. Lokale Mariachi-Bands aus meist sieben bis zwölf Instrumentalisten bringen mit Coverversionen von Lady Gaga- oder Beyoncé-Songs regelmäßig die Dancefloors zum Kochen. Und dann gibt es natürlich die Kunst des Spirituosenbrennens. Das Örtchen Tequila, das dem gleichnamigen Agaven-Schnaps zu weltweitem Ruhm verhalf, ist keine Autostunde entfernt. Und der ebenfalls von hier stammende Mezcal, noch etwas weniger bekannt als der Tequila, mausert sich gerade zur Spirituose des Tages in angesagten Bars von New York bis München. Doch die besten Sorten behalten die Tapatíos, wie sich die Bewohner Guadalajaras selbst nennen, lieber für sich. Testen kann man sie nur vor Ort, etwa in der Bar „Pare de Sufrir. Tome Mezcal“ – auf Deutsch heißt das: „Hör auf zu leiden. Trink Mezcal“. Der Name ist durchaus Programm. Unbedarfte Reisende sollten allerdings vorsichtig sein: der Schnaps ist wahres Teufelszeug – und die Mexikaner wollen es scheinbar wirklich wissen, mit ihrer ganz besonderen Hassliebe zum Tod.

Foto: Thomas Abeltshauser

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Um Leben und Tod geht es auch beim Lucha Libre, wenn auch nur auf den ersten Blick. Denn die mexikanische Variante des Wrestlings ist viel selbstironischer und zugleich affektierter als in den USA. Wenn die Muskelprotze in ihren Masken und absurden Kostümen auf die Bühne stürmen und den Machismo zugleich feiern und buchstäblich auf den Arm nehmen, ist das ein schriller Mix aus Trash, Genderparodie – und Porno. Das aufgekratzte Publikum schreit Obszönitäten, sowohl gegen die Performer, als auch gegen den verfeindeten Fanblock auf der anderen Seite der Arena. Eine Frau ist besonders kreativ in ihrer Aneinanderreihung wüster Beschimpfungen, die sie mit rauchig-krächzender Stimme zu Gehör bringt: Huren und Geschlechtsteile verbindet sie mit Heiligen, Müttern und Söhnen, sehr zum grölenden Vergnügen der Gäste um sie herum. Lucha Libre ist Volkssport und ein Ventil für Mexikos Klassengesellschaft. Hier sitzen prollige Arbeiter neben Geschäftsmännern, dazwischen eine schwule Clique und erstaunlich viele Frauen, die ihren Spaß daran haben, wie sich aufgepumpte Typen zum Affen machen. Wer sich besonders gut schlägt, kriegt am Ende zur Belohnung ein paar Münzen in den Ring geworfen. Selten kann man einen so lustigen und ausgelassenen Abend erleben. Und selten fühlt man sich so lebendig wie hier, in Guadalajara.

*Text: Thomas Abeltshauser

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