TURIN: Von Sodom nach Hollywood

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Als Austragungsort des diesjährigen Eurovision Song Contest war die norditalienische Metropole Turin im Mai eine Pilgerstätte für die LGBTIQ*-Community. Dabei ist die Stadt auch sonst eine erfrischende Alternative zu Rom, Mailand oder Venedig.

Foto: Dirk Baumgartl

Selten war Turin so schwul wie in jener Woche im Mai, als hier der 65. Eurovision Song Contest stattfand. „Das letzte Mal, dass in der Szene so viel los war, war während der Olympischen Winterspiele 2006“, erinnert sich Luciano. Bei einem Glas Aperol Spritz sitzt der Gastronom und Partyveranstalter an einem kleinen Tisch seiner Bar Lumeria, die unweit vom Ufer des durch Turin fließenden Po liegt. Geboren in der Region, zog Luciano mit zwanzig Jahren in die Stadt, um hier Architektur zu studieren. Nach zwanzig Jahren im Beruf suchte sich der heute 53-Jährige eine neue Aufgabe und fand diese unter anderem als einer von drei Veranstaltern der LGBTIQ*-freundlichen Partyreihe Porta Fortuna, die jeweils samstags alle zwei Wochen im Klub The Beach stattfindet.

Foto: Dirk Baumgartl

Vorreiterrolle

„Turins Szene ist weit weniger auf Mode und Trends fixiert als etwa die in Mailand. Hier geht es entspannter zu, und natürlich ist die Community auch kleiner“, so Luciano. „Als ich damals zum Studium in die Stadt kam, war ich von der Offenheit der Menschen hier überrascht und fühlte mich von Beginn an wohl.“ Natürlich hat auch Turins Szene während der Corona-Pandemie gelitten, doch langsam kommen die Veranstaltungen und Partys zurück. Dazu zählt nicht nur die von Luciano mitorganisierte Porta Fortuna, sondern auch die vor allem bei einem jungen, queeren Publikum beliebte Reihe Bananamia oder die superschwule Samstagsparty Qimánji mit Go-go-Tänzern, Dragqueens und allem Drum und Dran. Nach einer Zwangspause fand im Juni auch wieder der Pride statt, der in Turin seit 2006 gefeiert wird. Wesentlich älter ist das heute unter dem Namen „Lovers Film Festival“ bekannte und jeweils Ende April stattfindende LGBTIQ*-Filmfestival. Mit seiner Premiere im Jahr 1986, damals unter dem Titel „Da Sodoma a Hollywood“ („Von Sodom nach Hollywood“), ist es das älteste queere Filmfestival Europas und das drittälteste der Welt. Überhaupt kann sich Turin mit vielen Vorreitertiteln schmücken: erste Hauptstadt Italiens, Geburtsort des italienischen Kinos, der nationalen Autoindustrie (Fiat, Lancia), der knusprigen Brotstangen Grissini und der italienischen Schokoladentradition.

Foto: Dirk Baumgartl

Kulinarische Tradition

Überhaupt spielt das Thema Essen und Trinken in Turin und dem Piemont wie eigentlich überall in Italien eine besondere Rolle. Regionalität ist Trumpf, und wer sich zumindest einen groben Überblick über die kulinarische Szene der Stadt machen will, ist bei einer der zahlreichen Food-Touren bestens aufgehoben. So zum Beispiel mit der 28-jährigen Carolina, die neben ihrem Job als Lehrerin für Sprachen bei „Do eat better experiences“ fast täglich auf den Straßen Turins unterwegs ist, um Besuchern die schmackhaftesten Traditionen der Stadt näherzubringen. Das sind neben den bereits erwähnten Grissini oder Trüffeln zum Beispiel auch die kleinen, mit Ragout gefüllten Nudeltaschen Plin. Die Mini-Ravioli genießt man am besten mit etwas Salbeibutter im wohl traditionellsten Pasta-Restaurant der Stadt, der Pastificio Defilippis, dessen Geschichte bis ins Jahr 1872 zurückreicht. Eine weitere Spezialität ist das aromatische Fleisch des piemontischen Fassona-Rinds, der ältesten noch lebenden Rinderrasse der Welt. Das fettarme Fleisch wird in der Region gerne als Tatar zubereitet und als Vorspeise serviert. Ebenfalls aus dem Piemont stammt das bekannte Vitello tonnato, Kalbfleisch mit einer Soße aus Sardellen bzw. Thunfisch und Kapern. Turins Tradition als ehemalige Schokoladenhauptstadt Europas geht auf Herzog Emanuele Filiberto von Savoyen zurück, der – im Dienste des spanischen Königs – den Kakao nach Turin brachte. Ab 1678 eroberte die Turiner Schokoladenkunst die Herzen und Gaumen von Adel und Bürgertum. Kombiniert mit den besten Haselnüssen der Welt, natürlich aus dem Piemont, entstanden Spezialitäten wie Cremino, Torinese oder der Gianduiotto, der von der Form her an ein umgedrehtes Schiffchen erinnert und als die erste Schokopraline gilt, die ab 1865 in Gold- oder Silberpapier verpackt und verkauft wurde.

Foto: Dirk Baumgartl

Schon 1757 eröffneten die Brüder und Meisterdestillateure Giovanni Giacomo und Carlo Stefano Cinzano ihr kleines Geschäft in Turin. Wermut und Schaumwein sind auch heute noch die bekanntesten Getränke, die unter der Marke Cinzano bzw. Asti Cinzano verkauft werden. Weinliebhaber sollten in Turin und Umgebung vor allem die Rebsorten Nebbiolo und Barbera probieren. Aus den roten Rebsorten der zum UNESCO-Welterbe zählenden Weinanbaugebiete Langhe Roero und Monferrato werden Weine wie Barolo, Barbaresco oder Nizza kreiert.

Mischung aus Alt und Neu

In keiner anderen Stadt Italiens finden sich Barock- und Industriekultur so gleichberechtigt nebeneinander wie in Turin. Ein Besuch der in der Altstadt stehenden und zum UNESCO-Welterbe gehörenden Residenzen des Königshauses Savoyen ist ebenso spannend wie ein Stopp im Nationalen Filmmuseum oder im MAUTO, dem nationalen Automobilmuseum. Und schließlich findet sich im Ägyptischen Museum Turins die größte Sammlung altägyptischer Kunstwerke außerhalb von Kairo. Es ist gerade auch dieser Mix aus Alt und Neu, der für Luciano die Stadt so interessant macht und für eine hohe Lebensqualität sorgt. Fragt man ihn nach seinen Lieblingsorten, fällt es ihm sichtlich schwer, sich zu entscheiden. Da wäre zum einen die Villa della Regina mit ihrem wundervollen italienischen Garten, zum andern aber auch der Parco Dora, ein ehemaliges Industriegelände, das in einen städtischen Park verwandelt wurde und in dem jedes Jahr Anfang Juli das Kappa FuturFestival für elektronische Musik stattfindet. 

INFO

www.turismoturino.org

www.enit.de

TIPP

Während einer traditionellen Food-Tour durch Turin lernt man regionale Spezialitäten wie Plin, Tatar oder Schokolade kennen. Alternativ kann man sich auch auf Highlights wie Streetfood, Wermut, Süßigkeiten oder natürlich Wein (mit Besuch von Weingütern in der Region) konzentrieren. Auf dem Portal booking.com lassen sich unter dem Menüpunkt „Sehenswürdigkeiten“ zudem viele weitere thematische Stadtführungen und Erlebnisse buchen.

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