KOMMENTAR – WIR SIND CHARLIE

© Bild: Charlie Hebdo / Stéphane Charbonnier

Die Morde vom Mittwoch in Paris sind kein Zeichen für das Versagen Frankreichs, zwei Generationen muslimischer Immigranten aus ihren früheren Kolonien zu integrieren. Es ging dabei auch nicht um die französische Beteiligung an der militärischen Bekämpfung des IS im mittleren Osten. Sie sind auch nicht Teil einer wie auch immer gearteten Welle nihilistischer Gewalt in einem desillusionierten und moralisch bankrotten Westen, also eine Pariser Version von Newtown oder Oslo. Am allerwenigsten sollten sie als eine „Reaktion" auf die Verunglimpfung einer Religion durch „respektlose Karikaturisten" empfunden werden.

Die Morde von Paris sind nur die neuesten Auswüchse einer Ideologie, die seit Jahrzehnten versucht, durch Terror immer mehr Macht zu erlangen. Es ist die gleiche Ideologie, die Salman Rushdie über zehn Jahre hinweg gezwungen hat sich zu verstecken, weil er einen Roman geschrieben hatte, und die dann zur Tötung seines japanischen Übersetzers führte, sowie zu Mordversuchen an seinem italienischen Übersetzer und seinem norwegischen Verleger. Die Ideologie, die am 11. September 2001 dreitausend Menschen in den USA das Leben kostete. Die Theo van Gogh 2004 auf der Straße in Amsterdam abschlachtete, weil er einen Film gedreht hatte. Die Massenvergewaltigungen und -morde in die Städte und Wüsten Syriens und des Iraks zu verantworten hat. Die erst letzten Monat 132 Kinder und dreizehn Erwachsene in einer Schule in Peschawar massakrierte. Die mit solch perfider Regelmäßigkeit derartig viele, vor allem junge, Nigerianer tötet, dass dies inzwischen schon kaum noch öffentlich wahrgenommen wird.

Weil diese Ideologie einer der großen Weltreligionen entspringt, wird teils mit hanebüchener und verschwurbelter Logik versucht zu erklären, was diese Gewalt mit dem Islam zu tun hat, oder eben auch nicht. Viele reden mit Engelszungen darum herum und behaupten dass die Schlächterei nichts mit dem Islam zu tun hat, dass der Islam eine friedliebende Religion ist, oder dass die Morde allenfalls verzerrte Auswüchse dieser großartigen Religion sind („kein echter Muslim würde so etwas tun"). Andere schieben die Schuld komplett auf die dem Islam zugrunde liegende Theologie, als ob andere Religionen per se grundlegend friedfertiger wären – eine Auffassung die sowohl von der Geschichte als auch den jeweiligen „heiligen Schriften" selbst eindrucksvoll und umfassend widerlegt wird.

Eine Religion ist eben nicht nur eine bloße Textsammlung, sondern besteht vielmehr aus dem gelebten Glauben und den Traditionen ihrer Anhänger. Der heutige Islam beinhaltet eine beachtliche Minderheit von Gläubigen, die ein in der heutigen Welt ansonsten ungekanntes Maß an Gewalt zur Durchsetzung ihrer Glaubensprinzipien zumindest gutheißen, wenn schon nicht aktiv propagieren oder ausüben. Charlie Hebdo hat in seiner Satire keinerlei Unterschiede gemacht. Man steckte dort die humoristischen Nadeln gleichermaßen in die Empfindlichkeiten von Christen und Juden – aber lediglich Muslime reagierten darauf mit Gewaltandrohungen und Terror. Für einige Gläubige ist Gewalt ein Mittel um den „Willen Gottes" mit allem Nachdruck durchzusetzen – und dieser „Wille Gottes" ist eine Form von Totalitarismus, den wir vereinfacht „Islamismus" nennen. Politik als Religion, Religion als Politik. Die Terroristen wussten genau worum es ging, als sie in der Straße vor dem Büro von Charlie Hebdo „Allahu Akbar" riefen.

All diese Fakten machen es natürlich nicht einfacher, mit der erstaunlichen Welle von islamistischer Gewalt auf der Welt umzugehen. Wut und Verurteilung helfen dabei nicht, ebenso wenig wie die Ausgrenzung und Entfremdung der Millionen von Muslimen, die überhaupt nicht damit einverstanden sind, was da im Namen ihrer Religion veranstaltet wird. Viele davon verdammen den Angriff auf Charlie Hebdo mit all dem Herzblut, das eine Verletzung ihrer tief empfundenen Glaubensgrundsätze freisetzt.

Die Antwort auf Gewalt muss immer mit Vorsicht und Bedacht gefunden werden, und immer auf die jeweiligen Umstände zugeschnitten sein. In Frankreich wird man zum Beispiel darüber nachdenken müssen wie man verhindert, dass noch mehr der dort lebenden jungen Muslime der mörderischen Ideologie des Islamismus anheim fallen. Wie man möglichst vielen von ihnen klar macht, dass Mustapha Hurrad (Ein algerischstämmiger Redakteur von Charlie Hebdo, der sich unter den Opfern befindet) ein wirklicher Held war. Andernorts werden die Reaktionen anders ausfallen müssen, ggf. auch mit einem höheren Maß an Gegengewalt.

Aber die Morde von Paris waren derart spezifisch und dreist, dass ihre Bedeutung sehr klar ist. Die Karikaturisten starben für eine Idee. Ihre Mörder sind Soldaten in einem Krieg gegen Meinungs- und Redefreiheit, gegen Toleranz, Pluralismus und das Recht auf Provokation und Beleidigung - gegen all das was eine gesunde demokratische Gesellschaft ausmacht. Und deshalb müssen wir alle versuchen „Charlie" zu sein. Nicht nur heute, sondern jeden Tag. #JeSuisCharlie #IchBinCharlie

•am, nach einem Artikel von George Packer

Back to topbutton