Kriegsgrund Schwulenhass: Patriarch Kyrill I. stützt These von Deniz Yücel

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Das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche bestätigte mehr oder minder öffentlich, dass die NATO-Osterweiterung nie Putins Problem war. Verantwortlich für den Krieg in der Ukraine seien liberale Werte, insbesondere Gay-Pride-Paraden, ist sich das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche sicher. Diese Theorie stützt auch eine Analyse des Welt-Journalisten Deniz Yücel, der in seinem Beitrag „Die radikalen Putin-Sätze, die zu wenig Beachtung gefunden haben“ (Paywall!) auf bisher viel zu wenig beachtete Passagen aus den Reden Wladimir Putins hinweist. 

Für sein betontes Schweigen zum Krieg in der Ukraine war Kyrill I., seit 2009 Patriarch von Moskau und der ganzen Rus, in den letzten Tagen vielfach kritisiert worden – nun ging er in die Vollen, wie The Moscow Times berichtete. In seiner Predigt am Vergebungssonntag legitimierte das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche die russische „Militäroperation“ gegen die „Kräfte des Bösen“ in der Ukraine als Verteidigung gegen die „sogenannten Werte“ des Westen, also „die Welt des übermäßigen Konsums“ und der Schwulenparaden.

Foto: Kirill Kudryavtsev / AFP

Für Kyrill sind CSDs ein „Loyalitätstest“ gegenüber westlichen Regierungen und Beispiel für den Versuch der Ukraine, sich nach dem kulturellen Vorbild der NATO-Staaten umzugestalten.

„Pride-Paraden sollen zeigen, dass Sünde eine Variante des menschlichen Verhaltens ist. Deshalb muss man, um dem Club dieser Länder beizutreten, eine Gay-Pride-Parade veranstalten.“

Weil es in der seit 2014 von Russland besetzten Region in der Ostukraine „eine grundlegende Ablehnung der sogenannten Werte [gebe], die heute von denen angeboten werden, die die Weltmacht beanspruchen“, sei der „Ausbruch von Feindseligkeiten“ eine Reaktion auf die „Versuche“, „das zu zerstören, was im Donbass existiert“. „Wir wissen, dass, wenn Menschen oder Länder diese Forderungen ablehnen, sie nicht Teil dieser Welt sind, sie werden zu Fremden in ihr.“

Kulturkampf, mit echten Waffen geführt

Foto: STR / NurPhoto / NurPhoto via AFP

In dem Konflikt gehe es um etwas, das sei „weitaus wichtiger als die Politik“, so Kyrill, der die Übernahme fortschrittlicher westlicher Werte mit dem Ende der Zivilisation gleichsetzt. Gekämpft werde darum, „auf welcher Seite Gottes die Menschheit stehen wird“.

„Wenn die Menschheit akzeptiert, dass Sünde kein Verstoß gegen Gottes Gesetz ist, wenn die Menschheit akzeptiert, dass Sünde eine Variation des menschlichen Verhaltens ist, dann wird die menschliche Zivilisation dort enden.“

Kriegsgrund Schwulenhass 

Foto: Daniel Roland / AFP

So überschrieb der Journalist und Autor Deniz Yücel schon 28. Februar in der Onlineausgabe der Welt einen viel beachteten Beitrag (Paywall!), in dem er auf den roten Faden der Queerfeindklichkeit in den Reden Putins verwies. Besonders eine Passage in der Fernsehansprache Putins, in der er historisch weit ausholend seinen Angriff auf die Ukraine rechtfertigte, fiel Yücel auf: 

„In der Tat haben die Versuche, uns für ihre Interessen zu missbrauchen, unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns ihre Pseudowerte aufzuzwingen, die uns, unser Volk, von innen heraus zersetzen würden, nicht aufgehört, jene Haltungen, die sie bereits aggressiv in ihren Ländern durchsetzen und die direkt zu Degradierung und Entartung führen, da sie gegen die menschliche Natur selbst gerichtet sind.“

Wladimir Putin, 24. Februar 2022

Foto: Sergey Klimkin / CCO Public Domain

Yücel erinnert daran, dass „Zersetzung“, „Entartung“ und „gegen die menschliche Natur“ genau die Worte sind, mit denen Putin seit Jahren das russische Volk gegen queere Lebensweisen aufwiegelt. Dass er diese Homophobie in seiner Kriegsrede so unverhohlen aufgriff sei, so Deniz Yücel, „bemerkenswert“. Und weiter: 

„Kriegsgrund Schwulenhass, ein weltgeschichtliches Novum.“

Nicht neu hingegen ist – und männer* Leser*innen leidlich bekannt –, dass Homophobie und Queerfeindlichkeit sich wie ein roter Faden durch fast alle Diktaturen, Autokratien und von Populisten geführte Demokratien ziehen. Yücel erkennt dafür drei Gründe: ideologisch den Antiliberalismus, strategisch den Populismus, und im Halbbewussten den Männlichkeitskult. Mit einem großen Bogen von den Opfern des Paragrafen 175 StGB im Dritten Reich über die zahlreichen liberalen Errungenschaften der westlichen Gesellschaften und der Zustandsbeschreibung des Lebens von Queers und insbesondere schwuler Männer in Ungarn, Brasilien, dem Iran und vielen mehr kommt Yücel zu einer interessanten Schlussfolgerung: 

„Der Angriff auf die Ukraine ist vielmehr eine Art bewaffnete Identitätspolitik. Oder in seinen (Putins, A. d. R.) Worten: Die Vereidigung der „traditionellen Werte gegen Pseudowerte, die unser Volk von innen heraus zersetzen würden“.“

Wie nun diesem Krieg und diesen Autokraten gegenübertreten? Yücel antwortet gegen Ende seines Beitrages auf die unsägliche Kolumne seines Chefredakteurs Ulf Poschardt, der in gewohnt porscheprotzender Männlichkeitsattitüde titelte „Putin hat keine Furcht vor dem Westen – weil wir so schwach geworden sind“ (Paywall!). Er warnt davor, sich dem Kriegsgeheul der Alphamännchen anzuschließen. Es sei sehrwohl richtig, die Rolle des Militärs neu zu bewerten:

„Falsch ist es hingegen, als Reaktion auf den russischen Überfall auf die Ukraine das Lied von einer „Verweichlichung“ und „Verweiblichung“ der westlichen Welt anzustimmen. Denn das ist kein Freiheitslied, das ist die Marschmusik der Putins dieser Erde. Wo Putin auch aus Schwulenhass ein Krieg führt, muss die Verteidigung der Homo-Rechte – als Bestandteil von Grundrechten und -freiheiten –, Grund sein, die Waffen nicht zu strecken, sondern zur Abschreckung bereitzuhalten. Und jenen zu liefern, die dazu gezwungen sind, sie anzuwenden.“

Deniz Yücel, 28. Februar 2022


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