INTERVIEW: CSD am Bodensee

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Foto: M. Rädel

Fotos: Janna Pflüger, Marcus Schöll, Emily Huber

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Am 23. Juli soll in Friedrichshafen am Bodensee ein CSD, ein „Queer Pride“ stattfinden. Wir sprachen mit Mitinitiatorin Obertunte, bürgerlich Jonathan Oremek.

Wann hattest du dein Coming-out?

Das erste Coming-out hatte ich offiziell mit 13 bei Familie und Schule. Nach meinem inneren Coming-out habe ich es als selbstverständlich empfunden, queer zu sein. Es haben ja sowieso alle schon gedacht, ich sei queer. Ein Junge mit langen Haaren, der nicht toxisch männlich ist, kann halt kein hetero Cis-Mann sein, geschweige denn überhaupt ein Mann. Nachdem ich es einzelnen Klassenkamerad*innen gesagt habe und es sich sowieso rumgesprochen hatte, habe ich mich innerhalb einer Deutschaufgabe, in der wir einen Poetry-Slam über Liebe schreiben mussten, bei meiner homofeindlichen, adventistischen Lehrkraft geoutet. Bei meiner Familie war das etwas anders, meine Schwester hat mich gefragt: „Joni, bist du eigentlich schwul?“ Ich entgegnete ihr mit einer tuntigen Flapsigkeit: „Ich dachte, das wäre selbstverständlich!“ Mittlerweile halte ich Heterosexualität als Norm nicht mehr für selbstverständlich. Nicht selten frage ich sarkastisch in die Runde, wenn es um Sexualitäten geht: „Seid ihr eigentlich hetero oder seid ihr normal?“

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Wie gingen deine Eltern damit um?

Ich hatte immer schon ein sehr ambivalentes Verhältnis zu meiner Familie. Im einen Moment unterstützen sie dich und kaufen dir eine Pride-Flagge, im nächsten Moment nutzt ein*e Verwandte*r „Schwuchtel“ gegen dich als Schimpfwort. Als ich angefangen habe, mich von den falschen Erwartungen, die man an einen Mann stellt, zu lösen, habe ich viel Kritik geerntet. Schwul ist okay, aber jetzt auch noch Tunte? „Nein, so kannst du nicht aus dem Haus. Wenn du so rausgehst, dann wirst du verprügelt und bist selbst dran schuld!“ Auch wenn meine Eltern sich eigentlich nur Sorgen um mich machen, sind das homofeindliche Aussagen. – Gebt nicht den Opfern die Schuld, sondern den Täter*innen und den Vorstellungen der Gesellschaft! – Jedenfalls konnten sich meine Eltern nicht gegen mich durchsetzen. Ich gehe selbstbestimmt Tag für Tag so raus, wie ich mich fühle. Diskriminiert werde ich sowieso, da lohnt es sich nicht für mich, mich zu verstecken. Übrigens hat mein Vater mir ein Pfefferspray besorgt, welches ich, seitdem mir jemand in der Schule ins Gesicht geschlagen hat, immer dabeihabe. Ich glaube, mein Aktivismus macht meinen Eltern viele Probleme. Sie sind es nicht gewohnt, für ihre Rechte zu kämpfen, und können nicht nachvollziehen, warum ich mich so brennend für die Community einsetze. Aber am Ende des Tages unterstützen sie mich. Zum Beispiel dadurch, dass meine Mutter mir ein Make-up-Set kauft oder meine Schwester mir Kleider. Mein Vater hat mich auch oft zu Kundgebungen gefahren, wenn ich in Drag war und mir die Busfahrt dorthin zu gefährlich war. Meine Familie hat mich zwar schon oft verletzt, aber mich auch schon oft geliebt fühlen lassen. Davon abgesehen ist meine Oma mein größter Fan: Nach dem Fernsehbeitrag über mich auf RegioTV hat sie mich angerufen und meinte: „Hallo Obertunte! Das hast du so toll gemacht, ich muss deiner Mutter dazu gratulieren, was für ein tolles Kind sie hat!“ Das hat mir sehr viel bedeutet. Meine Oma versteht viele meiner Probleme zwar nicht, aber sie lernt gerne dazu.

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Fühlst du dich am Bodensee wohl?

Am Bodensee fühle ich mich überhaupt nicht wohl. Jeder Tag fühlt sich an wie ein Kampf. Es gibt nicht einen Tag an der Schule, an dem vor mir nicht auf den Boden gespuckt wird, ich beleidigt werde, man mir Gewalt androht oder man mir „gay“ hinterherruft. Davon abgesehen habe ich in einem Streamingbeitrag von „Übergang zur Vielfalt“ 2021 im Mai anlässlich des IDAHOBIT als Obertunte einen Text vorgetragen, in dem ich über Diskriminierungserfahrungen an einer Schule berichtet habe. Rate mal, wer mir daraufhin mit einer Anzeige wegen Verleumdung und übler Nachrede gedroht hat. Genau! Meine Schule hat sich beim Redebeitrag angesprochen gefühlt und direkt einen Vorfall erkannt, der auf die Schilderungen im Stream zutreffen könnte. Komisch, oder? All das ist passiert, während ich mit ein paar Freund*innen die erste Queer Pride in Ravensburg und Weingarten als Antwort auf Regenbogenstreifen, die am Stadtgarten abgerissen wurden, organisiert habe. Nach den Sommerferien, als ich einigermaßen aus dem Dauerstress draußen war, habe ich eine Beschwerde an das Regierungspräsidium BaWü gestellt bezüglich des Vorgehens meiner Schule mit mir. Denn nicht nur wurde mir mit einer Anzeige gedroht, sondern auch noch gegen mein Einverständnis meine Handynummer weitergegeben. Derzeit warte ich noch auf eine Stellungnahme meiner Schule. Davon abgesehen fühle ich mich immer wohler am Bodensee. Derzeit plant „Übergang zur Vielfalt“ der Queer Pride in Ravensburg, angesetzt für den 25. Juni. Zusätzlich übernehme ich mit ein paar anderen engagierten Personen hier im Rahmen von „Demokratie leben!“ die Planung für die Pride in Friedrichshafen, angesetzt für den Juli. Es passiert hier viel, vor allem, weil wir als Community es anstoßen. Es gab im Oktober erst noch einen Antrag im Gemeinderat zur Beflaggung des Rathauses in Friedrichshafen zum IDAHOBIT mit Regenbogenflagge. Die CDU und die Verwaltung haben sich dagegengestellt, deshalb musste über den Antrag noch mal neu abgestimmt werden. Da war ich mit dabei im Gemeinderat und habe direkt im Anschluss zur Bürger*innenfragerunde denen meine Meinung gegeigt. Die CDU hat die sexuelle Orientierung als „sexuelle Einstellung“ bezeichnet. Als wäre das eine Entscheidung! Sie hat die Regenbogenflagge sinngemäß als Aufmerksamkeitsgesuche einer Minderheit bewertet und argumentiert, dass man doch nicht für jede Kleinigkeit eine Flagge aufhängen könne. Das hab ich dann bei der Fragerunde angeprangert und die Stadt gefragt, was sie in Zukunft gegen Queerfeindlichkeit tun möchte. Denn die Flagge ist ein gutes Zeichen, aber zu wenig. Daraufhin hat der Bürgermeister uns versprochen, die Aufklärungsarbeit an Schulen zu verstärken. Den Redebeitrag kann man sich übrigens auch auf meinem Instagram-Account im Nachhinein noch anschauen.

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Wie reagiert dein Umfeld auf dich?

Neben Anzeigen, die mir aufgrund meines Aktivismus angedroht werden, muss ich auch Personen anzeigen, die mir beispielsweise auf Instagram „Schwuchtel“ schreiben, mir Morddrohungen schicken oder mir sagen, dass wir doch „besser hätten vergast werden sollen“. Als ich das bei der Polizei anzeigen wollte, hieß es: „Na ja, ich finde das ja auch nicht gut, dass man dir so was schreibt, aber wenn man sich so im Internet präsentiert, muss man halt auch damit rechnen.“ Vielen Dank, alter weißer hetero Cis-Mann, für Ihre sehr wertgeschätzte Perspektive! Sehr hilfreich. Ich könnte stundenlang aus dem Nähkästchen plaudern und dir von Stühlen, die mir nachts in Ravensburg hinterhergeschmissen werden, erzählen oder von Journalisten, die mich in ihren Artikeln über die Pride in Ravensburg als „Transe“ bezeichnet haben. Nein, keine Dragqueen! Eine „Transe“. Es gibt Tage, da kann ich gut damit umgehen und mich abgrenzen. Es gibt Tage, da spucke ich mit einer Selbstverständlichkeit zurück auf den Boden, wenn vor meinen Füßen mir jemand verächtlich auf den Boden spuckt. Es gibt Tage, da gehe ich nach Hause und weine. Und es gibt Tage, an denen ich nach fünf Minuten meinen Alltag weiterlebe. Denn Diskriminierung ist mein Alltag. Jeden Tag passieren mir mindestens drei schlimme Dinge. Da möchte ich nicht jeden Kampf zu Ende kämpfen, und das muss ich auch nicht. Oft stecke ich die Energie dann in Orga-Arbeit. Es gibt aber auch superviele schwule Männer, die es lieber hätten, wenn es nicht noch eine Tunte mehr in der Repräsentation gäbe. Wenn ich aber die einzige queere männlich gelesene Person von hier bin, die sich traut, über ihre Erfahrungen öffentlich zu reden, kann ich halt auch nichts machen. Aber es gibt auch so viel Wunderschönes, was mir widerfährt. Es macht das alles Wert, wenn ich auf der Pride bin, anderen Leidensgenoss*innen begegne, meinen Redebeitrag halte, in dem ich über meine Erfahrungen, queeren Widerstand und vor allem: Hoffnung rede. Es gibt nichts Schöneres, als nach deinem Redebeitrag eine Schlange an Menschen vor dir stehen zu haben, die sich bei dir bedanken wollen dafür, dass es dich gibt. Es gibt nichts Schöneres als Menschen, die dir ein halbes Jahr nach der Pride schreiben, dass sie dank dir sich getraut haben, sich bei der Familie zu outen. Es gibt nichts Schöneres, als Liebe und Erfahrungen mit Tausenden Menschen zu teilen. Nichts Schöneres, als bisher fremde Menschen weinend im Arm auf der Pride zu halten und Ihnen zu sagen: Ich hab dich, du hast es geschafft. Du bist nicht alleine und ich lasse dich nie wieder los! Reach out I’ll be there. We are family. Mir schreiben oft auch Leute, dass allein mein Instagram-Account @Obertunte sie dazu ermutigte, zu sich selbst zu stehen und für andere einzustehen. Wenn ich auch nur ein paar Menschen Hoffnung oder sogar eine Perspektive geben kann, dann war mein Leben etwas wert. Mehr möchte ich gar nicht erreichen.

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In Berlin hast du einige Freundinnen, verrate uns mehr.

Göttin sei Dank gibt es das Internet! Alleine darüber konnten wir die Pride trotz Corona planen und gestalten. Alleine darüber hat sich die meiste meiner Vernetzung abgespielt. Über Insta habe ich die Brigitte Oytoy, eine Polittunte aus Berlin, kennengelernt. Sie arbeitet ehrenamtlich im Schwulen Museum und leistet dort mit so vielen anderen Personen extrem wichtige Arbeit! Auch habe ich Cynna Moon kennengelernt, welche*r Teil von Nonbinary Berlin ist. Nonbinary Berlin organisiert regelmäßige Vernetzungstreffen für nichtbinäre Menschen.

Was ist dein Ziel als Obertunte?

Obertunte als Name ist ja damals mit 15 entstanden. Ein Freund meinte zu mir, dass meine Stimme schon ziemlich tuntig sei. Für mich war das ja der Untergang! Jetzt bin ich nicht nur queer, sondern auch noch eine Tunte. Die Randgruppe der Randgruppe, super! Aber schnell dämmerte es mir, dass das gar nicht schlimm ist. Einmal meinte jemand zu mir, dass er vielleicht etwas dicker sei, aber wenigstens keine Tunte. Da habe ich mich als Gegenreaktion auf jeglichen Medien zu Obertunte umbenannt. Dann bin ich nicht nur irgendeine Tunte, sondern DIE TUNTE! Der schlimmste Albtraum der meisten schwulen Männer, hehe. Männlichkeit an sich ist doch so subjektiv und unwichtig. Ich bin ein Mensch, ich fühle, werde geliebt und liebe. Ist das nicht alles, was zählt? Mal bin ich tuntiger, mal weniger tuntig. Wen juckt das schon? Mal trag ich Make-up, mal ein Kleid, mal trainiere ich meinen Körper und dazu habe ich haarige Beine: Wen juckt das schon? Ich glaube, wir sollten uns von den Kategorien „Mann“ und „Frau“ verabschieden, weil sie einfach absolut unwichtig sind. In so vielen indigenen Völkern gab es schon immer viel mehr als Mann und Frau, bis sie kolonialisiert wurden. Es ist neben der Sexualität nicht relevant, ob du männlich oder feminin bist. Die Frage lautet: Bist du ein guter, lustiger, sympathischer, cooler Mensch? Die Obertunte ist sichtbar, und damit geht sie genug Leuten schon auf die Eierstöcke. Damit sind wir auch bei meinem Ziel: Kämpfe sichtbar machen, über Missstände wie die auf meiner Schule reden und vor allem durch mein bloßes Dasein Fragen stellen: Was macht einen Mann aus? Ist das überhaupt wichtig? Was für Probleme haben queere Menschen? Was bedeutet es, Hetero oder Queer zu sein? Vor allem aber, bin ich selber frei? Werde ich für das, was ich bin, geliebt oder bin ich selbst nur eine Karikatur meiner selbst, die nach der Maxime „Was sollen denn bloß die Nachbarn denken?“ lebt? Das Ziel ist es, aufzuklären und Menschen die Werkzeuge zu geben, sich frei von den Ketten der Gesellschaft zu machen.

*Interview: Michael Rädel

www.instagram.com/obertunte


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