Ein Coming-out – 171 Jahre nach dem Tod?

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Neue Übersetzungen der Briefe von Frédéric Chopin sollen belegen: Das Musikgenie war schwul. Wurden alte Übersetzungen manipuliert und die wahren Gefühle des 1849 verstorbenen Komponisten aus gesellschaftlichen Zwängen heraus verborgen? Aus seiner homophoben Heimat Polen kommen Proteste. 

In der zweistündigen Sendung „Chopins Männer“, die auf dem Schweizer Sender SRF lief, wurde die Behauptung aufgestellt, dass es offene Homoerotik in den Briefen des Musikgenies gab – und Archivare und Biographen über die Jahrhunderte die Augen davor verschlossen. Übersetzungen sollen „verschönt“, Worte ausgelassen, Pronomen verändert worden sein – nur zu dem Zweck, das polnische Nationalheiligtum wieder mit konservativen Normen zu vereinen.

„Du magst es nicht, geküsst zu werden. Bitte erlaube mir, dies heute zu tun. Du musst für den schmutzigen Traum büßen, den ich letzte Nacht von Dir hatte.“

So nur eines der vielen Zitate, die Moritz Weber, Schweizer Pianist und Musikjournalist, in den Schriften des Komponisten fand. Es stammt aus einem von 22 Briefen an Chopins Schulfreund Tytus Woyciechowski. Die meisten von ihnen beginnen mit „Mein liebstes Leben“ – und enden mit „Gib mir einen Kuss, liebster Geliebter“.

Weber begann sich während des ersten Lockdowns im Frühjahr intensiv mit den Schriften von Chopin zu beschäftigen. Dabei will er herausgefunden haben, dass die Briefe falsch übersetzt worden waren – Absicht? Außerdem sollen zum Beispiel Hinweise auf ein absichtliches Interesse daran, männliche Sexualpartner auf öffentlichen Toiletten kennenzulernen, einfach ausradiert worden sein. 


Erfundene Gefühle für Frauen

Die Frauen in Chopins Leben sollen die Sopranistin Konstancja Gładkowska und die 16-jährige Maria Wodzińska gewesen sein – mit der er sich angeblich sogar verlobt hat. Weber betont jedoch: Er fand in den Briefen keinen einzigen Hinweis darauf, dass Chopin für eine der Frauen – oder überhaupt eine weibliche Person – sexuelle oder romantische Gefühle gehegt habe.

Foto: Pixabay / CC0

Weber sagte der britischen Zeitung The Guardian:

„Diese Affären waren nur Gerüchte, basierend auf blumigen Fußnoten in Biographien aus den letzten zwei Jahrhunderten. Weder das Chopin-Institut noch seine Biographen waren in der Lage, irgendwelche Beweise zu liefern.“

So versuchte auch der Musikwissenschaftler Alan Walker Woyciechowski in einer 2018 erschienenen Biographie „Fryderyk Chopin: A Life and Times“ diese Diskrepanz mehr schlecht als recht zu erklären: Darin heißt es, diverse erotische Briefe an einen Mann sollen zeigen, dass Chopin aufgrund einer „mentalen Verdrehung“ Gedanken sexuellen Verlangens an einen Freund richtete, obwohl sie eigentlich Gładkowska galten. Ah ja.

Sogar ein Sprecher des Fryderyk-Chopin-Instituts in Warschau gab in der SRF-Sendung zu: Es gibt keinerlei schriftliche Beweise für die Verliebtheit des Komponisten in Frauen – sondern nur mündliche Überlieferungen von Familienmitgliedern.


Chopin ist polnisches Nationalheiligtum

Fryderyk Franciszek Chopin wurde im Frühjahr 1810 im ehemaligen Herzogtum Warschau geboren. Sein Vater war Franzose, seine Mutter Polin. In Warschau erhielt das „Wunderkind“ seine musikalische Ausbildung, verbrachte die ersten 20 Jahre seines Lebens in Polen. 

Foto: L. A. Bisson / CC BY-SA 3.0 / wikimedia.org

Doch Chopin starb als Franzose: Am 2. November 1830 verließ er Polen aus politischen und beruflichen Gründen, bis zu seinem Tod lebte er größtenteils in Frankreich. Ab 1835 besaß er die französische Staatsbürgerschaft. Chopins Leben war von Armut und Krankheit geprägt. Das Musikgenie starb mittellos am 17. Oktober 1849 in Paris, vermutlich an den Folgen der Tuberkulose. 

In Polen ist und bleibt Chopin eine Ikone. Der Hauptflughafen in Warschau ist sogar nach ihm benannt, ebenso wie diverse Parks, Straßen, Gebäude. Denkmäler wurden ihm zu Ehren errichtet. Da ist naheliegend, dass die Nachricht seiner homoerotischen Gefühle von den durch die rechtskonservative Regierung stark homophob geprägten Medien nicht gut aufgenommen wurde. 

Panisch fragten einige: „War Chopin schwul?“, während andere Publikationen versuchten, Weber Hysterie zu unterstellen und seine Worte als unglaubwürdig zu brandmarken. Nur weil Chopin einen Freund geküsst habe, sei er ja nicht gleich schwul gewesen. Dass dies nicht Webers Aussagen entsprach, wurde verschwiegen. Stattdessen unterstellten die Journalisten ihrem Schweizer Kollegen eine „Verfälschung der Realität“. 


Darf eine polnische Ikone schwul sein?

Ein Sprecher des Chopin-Instituts in Warschau versuchte die Situation während der Sendung mit dem Argument zu retten, die erotische Sprache sei ein Produkt des romantischen Zeitalters und Chopins gebildetem Gesellschaftskreis geschuldet. Inwiefern dies erklärt, warum Chopin dieselben romantischen Worte nicht für Frauen nutzte, erläuterte der Sprecher nicht.

„Wenn man [die Briefe] im polnischen Original liest, klingt es ein wenig anders. Die Art und Weise, wie Chopin die Sprache benutzt, ist so musikalisch und kompliziert, das alles zu übersetzen ist Wahnsinn.“

Rose Cholmondeley, die Präsidentin der britischen Chopin Society, zögerte gegenüber CNN, zu bestätigen, ob Chopin schwul war, blieb aber offen für die Möglichkeit.

„Er ist ein Symbol Polens, doch die haben jetzt eine Regierung, die absolut schwulenfeindlich ist - und sollte er schwul sein, weiß Gott, was sie daraus machen würden. Wenn jemand eine Ikone ist, werden eine Menge Dinge unterdrückt.“


Homosexualität als Schlüssel für seine Musik

Man darf sich fragen: Sind die sexuellen und romantischen Gefühle des Komponisten heutzutage überhaupt von Bedeutung – abgesehen davon, dass eine mögliche „Verschwörung“ die tiefe Homophobie in unserer Gesellschaft aufzeigt? Moritz Weber sagt: Ja. Er hofft, dass die Sendung zu weiteren Studien darüber anregt, inwieweit Chopins Sexualität seine Musik beeinflusste.

Chopin schrieb in einem Brief an Woyciechowski:

„Ich vertraue dem Klavier die Dinge an, die ich manchmal Dir sagen möchte.“

Daran glaubt auch Weber – die Tatsache, dass Chopin einen Teil seiner Identität lange Zeit verbergen musste, wie er selbst in seinen Briefen schrieb, hätte seine Persönlichkeit und seine Kunst geprägt.

„Die Musik erlaubte ihm, sich vollständig auszudrücken, denn Klaviermusik hat den Vorteil, dass sie keine Worte enthält.“

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