Nobelpreisverleihung 2022: So queer wie nie!

by

Die Preisträger*innen des Jahres 2022 sind zwar schon seit Anfang Oktober bekannt, aber erst gestern Abend wurden die Nobelpreise für Medizin, Chemie, Physik, Wirtschaft und Literatur feierlich in Stockholm verliehen. Mit Svante Pääbo und Carolyn Berzotti waren unter den Geehrten auch zwei Personen aus der queeren Community.

Medizin: Svante Pääbo

Der Nobelpreis für Medizin 2022 wurde Svante Pääbo „für seine Entdeckungen über die Genome ausgestorbener Homininen und die menschliche Evolution“ verliehen. Dem gebürtigen Schweden gelang 1996 die Entschlüsselung der ersten DNA-Sequenzen eines Neandertalers. 2010 konnten Pääbo und sein Team eine erste Version des Neandertaler-Genoms aus Knochen rekonstruieren, die Zehntausende von Jahren alt sind. Damit schuf er eine neue Disziplin der Paläogenetik. „Seine Entdeckungen haben die Grundlage für die Erforschung dessen geschaffen, was uns Menschen so einzigartig macht“, erklärte die Nobelpreis-Jury.

Foto: Jonathan Nackstrand / AFP

Pääbo ist Direktor und Wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. 2014 erschien sein Buch Die Neandertaler und wir: Meine Suche nach den Urzeit-Genen, darin machte er seine Bisexualität öffentlich. Pääbo erklärte, er habe lange angenommen, dass er schwul sei, doch dann habe er die US-amerikanische Primatologin und Genetikerin Linda Vigilant kennengelernt, in deren „jungenhaften Charme“ er sich verliebte. Die beiden sind verheiratet und leben mit ihren beiden Kindern in Leipzig. 

Foto: Manuel Waltz / AFP

Chemie: Carolyn Bertozzi

Der Nobelpreis für Chemie ging in diesem Jahr an Carolyn Bertozzi und Barry Sharpless aus den USA sowie Morten Meldal aus Dänemark. Sie werden für ihren Beitrag zur Entwicklung von Methoden zum zielgerichteten Aufbau von Molekülen, der sogenannten Click-Chemie geehrt. Während Sharpless und Meldal dem Nobelkomitee der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften zufolge deren Grundlagen gelegt haben, habe Carolyn Bertozzi die Click-Chemie an lebenden Organismen eingesetzt und in eine neue Dimension geführt.

Foto: Jonathan Nackstrand / AFP

Bertozzi lebt seit ihrer Jugend offen lesbisch und engagiert sich seit den 1980er-Jahren für LGBTIQ*-Rechte. Für ihr Engagement wurde sie 2007 von der National Organization of Gay and Lesbian Scientists and Technical Professionals mit dem „GLBT Scientist of the Year Award ausgezeichnet“.

Homophobie sei ihr in ihrer Karriere weniger begegnet, sagte Bertozzi im April 2022 in einem Interview für die internationale chemische Fachzeitschrift C&EN. In der Wissenschaft sei es schlimmer, eine Frau zu sein als eine Lesbe, so Bertozzi, die von allen Wissenschafts-Nobelpreisträger*innen in diesem Jahr die einzige Frau ist. Später im Interview ging Bertozzi dann doch auf ein Erlebnis ein. Als sie 1999 im Alter von 32 Jahren den MacArthur-Preis gewann, habe C&EN sie und zwei andere Kolleginnen eingeladen, an einem „Tag im Leben“-Projekt teilzunehmen. Während des Interviews hatten die Ehemänner ihrer Kolleginnen die Gelegenheit, darüber zu sprechen, wie es war, mit einer Professorin verheiratet zu sein. Ihre Frau sei nicht interviewt worden und kam im Artikel gar nicht vor. „Ich weiß, dass der Autor die Absicht hatte, uns aufzunehmen, aber leider wurde es damals als zu ‚kühn‘ beurteilt.“

Bertozzi ist verheiratet, Mutter dreier Kinder und lebt in Palo Alto, Kalifornien.

Foto: Justin Sullivan / Getty Images North America / Getty Images via AFP

Geschichte des Nobelpreises

Seit 1901 werden Nobelpreise an Menschen und Organisationen verliehen, die aus Sicht des Komitees in den Bereichen Medizin, Chemie, Physik, Wirtschaft, Literatur sowie in der Sonderkategorie Frieden in außergewöhnlicher Weise zum Fortschritt der Menschheit beigetragen haben. Genau so hatte es Alfred Nobel in seinem Testament festgelegt. Das Vermögen des schwedischen Erfinders, der 1896 starb, ging in eine Stiftung über, die den Nobelpreis jedes Jahr an Nobels Todestag, dem 10. Dezember, verleiht. Mit den Zinsen des Vermögens sollten laut Nobel jene Menschen belohnt werden, „die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben“. Der Nobelpreis ist aktuell mit 10 Millionen Schwedischen Kronen dotiert, das sind ungefähr 980.000 Euro.

Foto: Jonathan Nackstrand / AFP

Neben Svante Pääbo und Carolyn Bertozzi listet Wikipedia in der langen Geschichte des Nobelpreises lediglich acht weitere Preisträger*innen aus der LGBTIQ*-Community: Jane Addams, Vicente Aleixandre, Jacinto Benavente, André Gide, Selma Lagerlöf, Thomas Mann, Otto Heinrich Warburg und Patrick White. Von den Genannten war es niemandem bei der Verleihung möglich, offen homosexuell leben.

Friedensnobelpreis 2022

Auch der Friedensnobelpreis wurde am 10. Dezember vergeben, allerdings in Oslo. Er ging in diesem Jahr an den Rechtsanwalt Ales Bjaljazki (Belarus) sowie an die Menschenrechtsorganisationen MEMORIAL (Russland) und Zentrum für bürgerliche Freiheiten (Ukraine). Alle drei zusammen zeigen, wie wichtig die Zivilgesellschaft für Frieden und Demokratie sei, hieß es in der Begründung für die Verleihung des Friedensnobelpreises.

Foto: Sergei Gapon / AFP

MEMORIAL International – Internationale Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge – war 1988 von sowjetischen Dissidenten, darunter dem Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow, in Moskau gegründet worden. Die Organisation gilt als wichtiges Symbol der Demokratisierung Russlands nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und widmete sich der Aufarbeitung der politischen Verfolgung und des stalinistischen Terrors in der Sowjetunion. In Moskau betrieb MEMORIAL ein umfassendes Archiv mit Zeitzeugen-Interviews und Dokumenten zum Stalinismus. Daneben machte MEMORIAL auf die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte im heutigen Russland aufmerksam und setzte sich für politische Gefangene und Minderheiten wie Migrant*innen und Homosexuelle ein.

Wegen Verstößen gegen das „Ausländische-Agenten-Gesetz“ wurde die Organisation im Dezember 2021 in Russland verboten und aufgelöst (männer* berichtete). Außerhalb Russlands bestehen die unabhängigen Einrichtungen von MEMORIAL weiter, in Deutschland hat die Organisation seit 1993 einen Zweig.

Back to topbutton