Berlin idiosynkratisch: Queer durchs Bayerische Viertel

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Beim zweiten Spaziergang durch den Regenbogenkiez Schöneberg geht es um gute Gelegenheiten, moderne Frauen, ein etwas anderes Denkmal und eine Aufforderung an ein SPD-Paar. 

zum ersten Spaziergang durch Schöneberg geht es HIER

Startpunkt Viktoria-Luise-Platz 11

Wenn man* mit Schöneberg hauptsächlich die Gegend um die Maaßenstraße und den Nollendorfplatz verbindet, dann ist das Bayerische Viertel, allen voran der Viktoria-Luise-Platz, eine kleine Überraschung. Es ist ruhiger, irgendwie bürgerlicher und scheint besser in andere Bezirke als nach Schöneberg zu passen. Aber das ist kein Wunder, denn dieses Viertel wurde Anfang des 20. Jahrhunderts extra dafür entworfen, zahlungskräftige Bewohner anzulocken. Gentrifizierung ist nicht im Prenzlauer Berg erfunden worden und Geschichte wiederholt sich. 

Foto: C. Metzger

Leider sieht man* das inzwischen besser an der Anlage der Straßen und Plätze als an den Gebäuden. Der Zweite Weltkrieg hat hier deutlich seine Spuren hinterlassen. Viele der schönen Häuser mit den elegante Fassaden und den bis zu 250 m² großen Wohnungen mit Empfangsräumen sind nicht erhalten geblieben. Der Rest wurde häufig in den 1950ern und 1960ern durch das Abschlagen des Stucks verschandelt. Die pittoresken Vorgärten finden sich allerdings auch vor vielen der Neubauten wieder. 

Foto: C. Wilder

Der Startpunkt unseres Spaziergangs Viktoria-Luise-Platz 11 ist ausgerechnet ein besonders unspektakuläres Exemplar der eben erwähnten Neubauten, weshalb ihr durchaus die Tendenz haben könntet, von hier einfach nur wieder wegzuwollen. Warum also starten wir hier?

Das etwas unscheinbar geratene Haus steht am Ort, an dem die gar nicht so unscheinbare Karriere von Billy Wilder startete. Er lebte hier 1927 zur Untermiete und die Geschichte dazu passt dann doch wieder zum verruchten Schöneberg: 

Als der Direktor einer Filmgesellschaft, Maxim Galitzenstein, sich in Unterhosen aus dem Schlafzimmer der Nachbarin in Wilders Zimmer flüchtete, verkaufte Wilder ihm angeblich sein erstes Drehbuch, eine Weltkarriere begann.

Moderne Frauen

Ein besonders schönes Haus im Originalstil befindet sich auf gegenüberliegenden Seite des Platzes.

Hinter der bürgerlichen Fassade von Hausnummer 6 sind nicht nur Wohnungen sondern auch das Berufsausbildungszentrum des Lette-Vereins beheimatet, der 1866 als „Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts” gegründet wurde. Das Gebäude wurde 1902 als Schulgebäude des Verein errichtet. Schon seit 1871 konnte frau bei dem Verein eine moderne Ausbildung zu Telegraphistin, Elektroassistentin, Handelskorrespondentin, Setzerin, Buchbinderin später auch sogar zur Röntgenfotografin erhalten. Dadurch hatten bürgerliche Frauen, die noch keinen Zugang zu universitärer Bildung hatten, die Möglichkeit wissenschaftliche Grundlagen zu erlernen.

Foto: C. Metzger

Der Verein war zwar nicht von Anfang an progressiv, wurde jedoch sehr schnell Teil der bürgerlichen Frauenbewegung. Schon der zweite Leiter des Vereins, Jurist Prof. Holzendorff, wollte 1869 die vollständige Anerkennung der Frau als selbsttätiges Individuum mit den gleichen politischen Rechten. Auch wenn die Frauenbewegung bei der Umsetzung der politischen Seite dieser Ziele nicht den überragenden Erfolg hatte, sollte der praktische Nutzen der finanziellen Unabhängigkeit ein Stachel im Fleisch des Patriarchats bleiben.

Lesbische Sichtbarkeit ...

Foto: Bundesarchiv / CC-BY-SA 3.0

Doch das galt nicht für alle Frauen. Ihre erträumte Ausbildung zur Ärztin konnte die 1884 geborenen Bergmannstocher Clara Wortmann schlicht nicht bezahlen. So kam sie zur Kunst, zum Namen Claire Waldoff und 1906 nach Berlin. Nach einem Auftritt im Kabarett „Roland von Berlin“ in der Potsdamer Straße wurde sie zum Star. 

Die „Berolina des Chansons“ passte genau zu Berlin: 

Sie lebte im Westen in der Regensburger Straße 33. Dort führte sie mit ihrer Lebensgefährtin auch einen kulturell-politischen Salon für Lesben, zu dem sicher auch ihre guten Freunde Heinrich Zille und Kurt Tucholsky geladen waren. Mit Zille verband sie unter anderem die Liebe zu Berlin, deren Bewohner*innen und die doch sehr eigentümliche Höflichkeit. In ihrer Biografie beschreibt sie eine bezeichnende Szene:

Grafik: Heinrich Zille / gemeinfrei

Apropos Frauen. Wir hatten ja noch so wenige davon. Wer Lust hat jemanden kennenzulernen, der mit vielen der ganz großen Damen im Showgeschäft gearbeitet hat, wie zum Beispiel der Knef, und gleichzeitig eine außergewöhnliche Sammlung erleben will, der besucht das Lippenstiftmuseum von René Koch in der Helmstedter Str. 16 sobald es wieder möglich ist.

Bis dahin kann in Erinnerungen an die Diva geschwelgt werden.

... ein ungewöhnliches Denkmal ...

Wir verlassen den Viktoria-Luise-Platz nach Süden. Über die Münchner Straße kommt erscheint hinter der Hohenstaufenstraße die erste Tafel eines eindrucksvollen Denkmalprojektes.

80 doppelseitige Schilder sind an Lampenmasten im gesamten Viertel montiert. Auf der einen Seite sind sie mit einem Bildmotiv versehen, auf der anderen Seite stehen verkürzte Texte mit anti-jüdischen Gesetzen und Verordnungen aus den Jahren 1933 bis 1945.

Auch wer meint, viel über die Verfolgung der Juden im Dritten Reich zu wissen, wird über die Fülle und perfide Gründlichkeit der Gesetze überrascht und erschrocken sein. 

... und viele weltbekannte Namen

Die Hinweise auf die vielen berühmten Bewohner finden sich überall im Bayrischen Viertel. Die Liste ist sehr lang.

Foto: flickr Nutzer thierry ehrmann/ CC BY 2.0

Einer der bekanntesten zeitweisen Wahlbewohner ist natürlich Albert Einstein (Haberlandstraße 8a), der gerade dort die Nachricht für den Nobelpreis bekam. In seiner Wohnung waren immer auch viele seiner Freunde zu Besuch – das Who's who aus Kunst, Kultur und Wissenschaft: zum Beispiel Charlie Chaplin, Max Planck, Heinrich Mann, Lise Meitner, Käthe Kollwitz und viele andere. Ob er und seine Gäste auch das Nachtleben, für das Schöneberg so berühmt war und ist, genossen, ist nicht überliefert. Sicher ist aber, das Einstein einer der Unterzeichner der Petition gegen den Schwulenverfolgungsparagrafen § 175 StGB war, genauso wie die Brüder Mann und viele weiterer seiner Freunde des liberalen Bildungsbürgertums.

Foto: Wellcome Library, London

Weitere mögliche Wegpunkte unseres Ausfluges sind die Adressen von Rudolf Breitscheid (Haberlandstraße 8), Gisèle Freund (Haberlandstr. 3), Arno Holz (Stübbenstraße 5), Egon Erwin Kisch (Hohenstaufenstraße 36), der rasende Reporter, und der Schriftsteller Gottfried Benn (Bozener Straße 20) sowie Kurt Pinthus (Heilbronner Straße 2).

Eine fast vergessene und in den letzten Jahren wiederentdeckte Künstlerin lebte und arbeitete hier. Lotte Laserstein (Jenaer Straße 3). Ob sie nun wie ihre Schwester lesbisch war oder nicht, ihre Portraits waren wunderbar einfühlsam. Aufmerksamen Leser*innen ist möglicherweise folgendes Bild noch bekannt:

Foto: Schwules Museum

Auf jeden Fall sollte aber ein Zwischenstopp beim Café Haberland über dem U-Bahnhof Bayrischer Platz eingelegt werden, wenn es wieder möglich ist. Neben vielen historischen Informationen gab es  hier auch immer interessante Veranstaltungen und guten Kuchen. 

Foto: C. Metzger

Foto: C. Metzger

Der Bayrische Platz selber war ursprünglich als Schmuckplatz mit Grünflächen, Bäumen, Hecken, einer großen Springbrunnenanlage und hölzernen Bänken gestaltet worden. Leider ist davon 1945 nach der Trümmerbeseitigung nur noch ein Zeitungskiosk übrig geblieben und bei der Neugestaltung wurde auf Schmückendes offenbar konsequent verzichtet. Auch die Grunewaldstraße schafft nicht wirklich Abhilfe. Immerhin sorgen hier vier Springbrunnen in Kunststeinbecken in heißen Sommern für Abkühlung.

Wie vermehrt man eigentlich Abgeordnete?

Foto: C. Metzger

Der Rundgang durch das Denkmal endet im Süden hat am Rathaus Schöneberg. Dass das Rathaus selber mit viel Berliner Geschichte zu tun hat und von 1949 bis 1991 Sitz des Regierenden Bürgermeisters war, wissen sicher viele. US-Präsident J. F. Kennedy sagte dort „Ich bin ein Berliner“.

Eine der amüsanteren Episoden in der Geschichte des Rathauses wollen wir noch kurz erzählen. Sie hat mit Paul Löbe, dem Alterspräsidenten des ersten Deutschen Bundestages, und Louise Schroeder, von Mai 47 bis August 48 als erste Frau Oberbürgermeisterin von Groß-Berlin, zu tun.

Nachdem die Teilung Berlins klar war, wurden Anfang der 1950er viele Bundesgesetze auf West-Berlin ausgeweitet. Das machte eine Erhöhung der Abgeordnetenzahl notwendig und so wurde am „Gesetz über die Vermehrung der Berliner Abgeordneten“ gearbeitet und der Entwurf ging natürlich an alle Fraktionen, allerdings lautete die Adresse

„Herrn Paul Löbe und Frau Louise Schröder zuständigkeitshalber“.

Amtsdeutsch kann manchmal auch schön sein. 

Einfach weiter ...

Es lohnt sich weiter in den Rudolf-Wilde-Park zu gehen und beim Goldenen Hirsch auf den U-Bahnhof Rathaus Schöneberg zu schauen.

Foto: C. Metzger

Dieser oberirdische Bahnhof, der gleichzeitig als Brücke dient, ist selbst bei der Verschiedenheit der Berliner Bahnhöfe ungewöhnlich. Benannt ist die Brücke nach Carl Zuckmayer, der hier um die Ecke wohnte, als er am Drehbuch für den Blauen Engel schrieb.

Foto: C. Metzger


Info: Berlin idiosynkratisch

Deutschlands Hauptstadt hat – nicht nur im Ausland – in vielerlei Hinsicht den Ruf eigentümlich zu sein. Unsere Kurzserie von queerhistorischen Stadtspaziergängen durch die Kieze für Berliner*innen und solche, die es zeitweise sein wollen. 

Foto: Screenshot duden.de

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