966 warme Worte – Homolobby und Genderstern

by

Soviel Queerpolitik gab es noch nie. Und mit dem grünen Justizsenator Dirk Behrendt wäre sogar ein schwuler Mann für die Umsetzung zuständig. Gestern wurde die finale Version des Koalitionsvertrages in Berlin vorgestellt.

Foto: Christian Knuth

Während sich CSU und Teile der CDU darin versuchen, populistischen Forderungen der neurechten Bewegung durch eigene Entgleisungen nachzueifern, legt das neue rot-rot-grüne (#r2g) Regierungsbündnis in der Bundeshauptstadt einen umfangreichen Katalog mit politischen Handlungsabsichten vor, der Antworten auf die drängenden Fragen der Gesellschaft gibt.

Das Kapitel „Regenbogenhauptstadt Berlin“ ist denkbar kraftvollste politische Antwort auf die gesellschaftliche  Rolle rückwärts und das Erstarken der AfD in diesem Jahr. 966 Worte umfasst das Kapitel und ist damit das umfangreichste queere Regierungsprogramm einer Landesregierung. Es greift den politischen Gegner durch konkrete Maßnahmen genau da an, wo dieser in den letzten Wochen seine Schwerpunkte setzte. Statt sich auf Diskussionen über angebliche Frühsexualisierung, Gendermainstreaming oder den Schutz heterosexueller Paarbeziehungen mit Kindern einzulassen, formulieren die drei Koalitionspartner in Spe (noch müssen die Mitglieder bzw. Parteigremien zustimmen) politische Unterstützung einer weltoffenen und modernen Gesellschaft, in der sich der Staat nicht anmaßt über Lebensentwürfe von Einzelnen zu urteilen, sondern diese flankierend unterstützt.

Foto: Christian Knuth

Kampfansage „Diversity-Mainstreaming“

In Erwiderung auf die Gender-Mainstreaming-Kampagnen von besorgten Eltern und sogenannten Familienschützern konkretisiert die neue Koalition den Begriff und trägt ihn aus der Bildungspolitik in die Wirtschaft. Sogar Sanktionen sind indirekt vorgesehen, sollten sich Arbeitgeber bzw. Auftragnehmer nicht an die inzwischen weltweit anerkannten Regeln zur Diversität halten: „Im Sinne eines Diversity-Mainstreamings soll Vielfalt systematisch in allen Verwaltungsprozessen Berücksichtigung finden. Mit dem LADG wird eine Verpflichtung zu Gleichbehandlung und Diversity-Mainstreaming bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und der Gewährung staatlicher Leistungen an Private eingeführt.“ Um diese Ziele nachhaltig in der Gesellschaft zu verankern, sollen sie in allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen in Bildung und Fortbildung implementiert werden.

Weitere Schwerpunkte in der Queerpolitik sind LGBTTIQ*-Geflüchtete, die Initiative sexuelle Vielfalt und – eine weitere Antwort auf populistische Fragen – die Gewalt gegen queere Menschen, die zumindest gefühlt zunimmt. Hier sind die Ausbildung und Sensibilisierung der Behörden und die Stärkung der Opferhilfe angekündigt.

Zusammen mit umfangreichen Plänen zur Schulsanierung, verbesserter Verwaltung und der Stärkung des sozialen Wohnungsbaus unternimmt #r2g offenbar den ernsthaften Versuch, aus den Fehlern der großen Koalition zu lernen und die Sorgen der Bürger nicht nur ernst zu nehmen, sondern Lösungen anzubieten. •ck

Foto: M. Rädel

DOKUMENTATION KOALITIONSVERTRAG

Regenbogenhauptstadt Berlin

In Berlin leben eine große Vielfalt von Lebensentwürfen und starke Communities von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen, Transgendern, Intersexuellen und Menschen, die sich als Queer verstehen (LSBTTIQ*). Sie prägen Berlin mit und tragen mit viel Engagement zur Weltoffenheit und zum Berlin-Gefühl bei. Die LSBTTIQ*-Communities brauchen starke Partner*innen an ihrer Seite. Diesem Anspruch wird sich die Koalition stellen. Die Förderung von Selbstbestimmung, Selbstorganisation und die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe in ganz Berlin werden die Arbeit der Koalition bestimmen.

Neuer Schwung für die Initiative sexueller Vielfalt

Der Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ (ISV) wird neuer Schwung verliehen, neue Bereiche werden erschlossen und sie wird auf Nachhaltigkeit ausgerichtet. Das Ziel der Initiative ist die Förderung der Akzeptanz von LSBTTIQ*: in der Schule, bei Behörden, in Verbänden, in Betrieben sowie in der Zivilgesellschaft.  Die Koalition wird die bisherigen Maßnahmen intensivieren und evaluieren, um neue Erfordernisse festzustellen und eine ständige Weiterentwicklung voranzutreiben. Die Koalition verpflichtet sich dem Ziel, die ISV in eine dauerhafte Struktur der Akzeptanzarbeit zu überführen, in der die Berliner Verwaltung und Akteur*innen der Zivilgesellschaft miteinander kooperieren. Dafür wird die Koalition die Haushaltsmittel für die ISV bis zum Ende der Legislaturperiode verdoppeln. Schwerpunkte werden die Bereiche Bildung, Jugend, Arbeitswelt, Antidiskriminierungsarbeit sowie Gewaltprävention sein. Bei der Weiterentwicklung und Ausgestaltung der ISV wird die Koalition die LSBTTIQ*-Communities und die vielfältige Stadtgesellschaft kontinuierlich einbinden und deren Impulse aufnehmen. Dafür wird die Koalition die Kompetenzen und das Engagement der LSBTTIQ*-Communities der Stadt heranziehen und alle einladen, gemeinsam an einem ressortübergreifenden Maßnahmenplan mitzuarbeiten.

Diversitykompetenzen ausbauen

Es ist erklärtes Ziel der Koalition, ihr Engagement für Weltoffenheit, Bürger*innenorientierung und Chancengleichheit weiter zu verstärken. Dafür erarbeitet das Land Berlin eine Diversity-Gesamtstrategie, die verbindliche Ziele und Verfahrensschritte für die Berliner Verwaltung festschreibt. Die Landesantidiskriminierungsstelle (LADS) nimmt eine koordinierende und beratende Rolle im Prozess der Erstellung einer Gesamtstrategie ein. Die Koalition will die Diversity-Kompetenz der Verwaltung weiter stärken und wird hierfür das Angebot entsprechender Trainings und Schulungen deutlich verstärken. Im Sinne eines Diversity-Mainstreamings soll Vielfalt systematisch in allen Verwaltungsprozessen Berücksichtigung finden. Mit dem LADG wird eine Verpflichtung zu Gleichbehandlung und Diversity-Mainstreaming bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und der Gewährung staatlicher Leistungen an Private eingeführt. Die Koalition wird die Diversity- und Queerkompetenzen in allen pädagogischen Berufen stärken, queere Bildungsarbeit absichern und zu einem verbindlichen Bestandteil der Aus-, Fort- und Weiterbildung machen. Sie wird das Ziel der Akzeptanzförderung von sexueller Vielfalt an Schulen durch entsprechende Maßnahmen und Projekte unterstreichen und im Schulgesetz und im Sportförderungsgesetz verankern.

Zur Unterstützung des Coming Outs und der Belange junger LSBTTIQ* wird die Koalition die queere Jugendarbeit ausbauen und mindestens ein queeres Jugendzentrum mit berlinweitem Auftrag einrichten. Sie unterstützt insbesondere queere Projekte, die in der Jugendfreizeit- und Jugendberatung und in der Schulaufklärung mit dem Peer-to-Peer-Konzept arbeiten. Viele Projekte dienen als Labor für eine moderne, offene und wachsende Stadtgesellschaft. Innerhalb und außerhalb der ISV müssen erfolgreiche Projekte ausgebaut und verstetigt werden. Die Koalition wird dafür sorgen, dass lesbische Projekte nicht im Hintergrund bleiben und lesbische Sichtbarkeit erhöhen.

Mehrfachdiskriminierung

Die besondere Situation von trans*- und intergeschlechtlichen Menschen und die Integration von LSBTTIQ*-Geflüchteten wird die Koalition stärker in den Mittelpunkt rücken. Die Koalition wird die Strukturen der Opferhilfe und der Gewaltprävention für alle LSBTTIQ*-Gruppen bedarfsgerecht ausbauen. Polizei und Staatsanwaltschaft werden zu LSBTTIQ*-feindlichen Tatmotiven fortgebildet. Ziel ist die Anzeigenbereitschaft von gewaltbetroffenen LSBTTIQ* und das Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden zu erhöhen.

Gute Beratungs- und Unterstützungsangebote

Die Koalition unterstützt das Selbstbestimmungsrecht von Trans* und Inter* über ihre geschlechtliche Identität und ihren Körper. Sie wird die Peer-to-Peer-Beratungs- und Unterstützungsinfrastruktur für Trans* und Inter* ausbauen. Zur Unterstützung von Trans* und Inter* wird die Koalition ein Netzwerk für Trans* und Inter*Menschen initiieren, um den Dialog zwischen Projekten, Wissenschaft und medizinischen Einrichtungen zu befördern. Die Koalition wird die Aus- und Fortbildung des Personals im Gesundheitswesen ausweiten, um über die Belange von Trans* und Inter* aufzuklären. Die Koalition wird die Empfehlung des Deutschen Ethikrates von 2012 zu Intersexualität umsetzen.

Menschen fliehen auch nach Berlin, weil sie in ihren Heimatländern aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verfolgt werden. LSBTTIQ*- Geflüchtete sind in Berlin willkommen. LSBTTIQ*-Geflüchtete brauchen Ermutigung, Schutz und Beratung. Die Koalition wird die Maßnahmen dazu verstetigen, sicherstellen und kontinuierlich verbessern. Die Koalition wird Projekte fördern, die Wohnhäuser, Wohngruppen und Wohngemeinschaften für LSBTTIQ* schaffen. Hier sind Frauenwohnprojekte und Mehrgenerationenhäuser von besonderer Wichtigkeit. Die Koalition wird zudem Krisenwohnungen für von Zwangsverheiratung betroffene LSBTTIQ* einrichten. Selbstbestimmtes Leben im Alter und bei Behinderung ist dann möglich, wenn es keine Barrieren gibt. Die Koalition strebt eine barrierefreie LSBTTIQ*-Infrastruktur an.

Berlin ist der Geburtsort der modernen Emanzipationsbewegung von LSBTTIQ*. Die Koalition bekennt sich zu dieser Geschichte und zur Wiedererrichtung des von den Nazis zerstörten Magnus-Hirschfeld-Instituts. Die Koalition unterstützt die Idee eines Elberskirchen-Hirschfeld-Hauses und wird den partizipativen Prozess seiner Umsetzung begleiten. Die Koalition wird dafür Sorge tragen, dass der Unterhalt des Magnus-Hirschfeld-Denkmals gesichert wird. Die Koalition will die Sichtbarkeit von LSBTTIQ* in Gremien stärken. Die Koalition wird das Netzwerk der Angebote im Bereich HIV/AIDS und Hepatitiden stärken.

Belange der LSBTTIQ*-Community national und international engagiert vertreten

Die Koalition wird sich gegenüber dem Bund dafür einsetzen, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Regenbogenfamilien und Mehrelternschaften zu verbessern. Mittel der Familienförderung müssen für sie uneingeschränkt zugänglich sein. Kinder und Jugendliche in Regenbogenfamilien werden durch uns Empowerment erfahren. Die Koalition wird dazu Bundesratsinitiativen im Interesse der LSBTTIQ*-Community initiieren und unterstützen. Dazu gehört vor allem die Initiative zur Öffnung der „Ehe 107 für alle“ mit vollem Adoptionsrecht. Außerdem ergreift die Koalition die Initiative zur Erweiterung des Artikel 3 des Grundgesetzes und für die Ersetzung des Transsexuellengesetzes durch eine moderne Gesetzgebung, die sich konkret an den Bedürfnissen von Trans*menschen orientiert, sowie für ein Verbot von geschlechtszuweisenden Operationen an intersexuellen Säuglingen und Kindern. Die Koalition wird die Interessen von LSBTTIQ* auch international unterstützen und dazu insbesondere die Kontakte zu Berlins Partnerstädten nutzen und wo notwendig auch in kritischen Dialog mit ihnen treten.

Hier den ganzen Vertrag lesen!

Back to topbutton