Interview: Sexualisierte Gewalt gegen queere Geflüchtete

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Jugendliche LGBTIQ* sind im Fluchtkontext besonderen Gefahren aussetzt. Eine Studie von World-Vision warnt vor der Möglichkeit sexueller Ausbeutung, die Schwulenberatung Berlin fordert im Zuge des Zustroms von LGBTIQ*-Geflüchteten aus der Ukraine eine unverzügliche Umsetzung der seit Jahren ermittelten und zugesagten Kapazitäten zur Versorgung.

Und das nicht nur in Berlin, sondern als Teil des bundesweiten „Bündnis queere Nothilfe Ukraine“. Stephan Jäkel, Abteilungsleitung Flucht dazu:

„Es ist berührend und ermutigend, welche Arbeit in der Community gerade in Solidarität mit den Menschen aus der Ukraine – unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit – gestemmt wird. Aber die Versorgung hier in Berlin und Deutschland muss durch reguläre Strukturen und Finanzierung abgesichert werden und darf nicht abhängig von Spendenaufkommen und ehrenamtlicher Unterbringung sein.“ (Quelle)

Dies unterstreicht auch eine fast zeitgleich mit dem Appell der Schwulenberatung erschienene Studie von World-Vision. Sie konstatiert:

„Vor Krieg fliehendeKinder kommen in Deutschland mit vielen helfenden Menschen in Kontakt und sind dennoch unterschiedlichen Formen sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Sowohl Mädchen als auch Jungen werden fehlende Schutzkonzepte und Kontrollen zum Verhängnis.“

In einem eigenenKapitel mahnen die Studienmacher*innen besonders die Situation von LGBTIQ*- Jugendlichen im Fluchtkontext an. Für die aktuelle Ausgabe fragte hinnerk diesbezüglich bei Forschungsleiterin Dr. Caterina Rohde-Abuba nach.

Foto: Daisuke Tomita / The Yomiuri Shimbun / AFP

Über welche Zahlen sprechen wir im LGBTIQ*-Bereich?

Meines Wissens gibt es bisher keine Erhebungen dazu, wie viele queere Kinder undJugendliche im Fluchtkontext sexualisierte Gewalt erleben. Die Kampagne „One in Five“ des Europarates nimmt an, dass

eines von fünf Kindern in Europa sexualisierte Gewalt erfährt.

Diese Zahl bezieht sich aber auf die Mehrheitsgesellschaft. Für LGBTIQ* Kinder auf der Flucht würde ich von einer noch stärkeren Betroffenheit ausgehen: sie leben in sehr unsicheren Kontexten, was auch Unterkünfte in Deutschland miteinschließt. In Bezug auf die Mehrheitsgesellschaft wissen wir, dass Kinder und Jugendliche mit nicht-heteronormativen Identitäten stärker von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Vermutlich intersektionieren diese beiden Ungleichheitslagen – Flucht und Queerness – zu einer stärkeren Betroffenheit als das Verhältnis eins von fünf angibt.

Was sind die spezifischen Besonderheiten für queere Kinder und Jugendliche auf der Flucht?

In vielen Herkunftskontexten, Transitländern und auch in Deutschland fehlt ein flächendeckendes Netz von Hilfs- stellen und Beratungsangeboten, die für LGBTIQ*-Themen ausreichend sensibilisiert sind, und damit die Bedarfe und Interessen queerer Kinder vertreten könnten. Teilweise wurde uns auch von Diskriminierung oder Gewalt an queeren Kindern und Erwachsenen durch haupt- und ehrenamtlich Helfende oder Mitbewohnende berichtet.

In einigen Städten, wie in Berlin, gibt es sehr gute spezialisierte LGBTIQ*-Angebote.

Manche Jugendliche befürchten aber, dass durch die Inanspruchnahme dieser Hilfe ihre Identität offenbart werden könnte. Beratungen für queere Kinder und Jugendliche, egal ob sie von Fachkräften durchgeführt werden, die auf LGBTIQ*- Themen spezialisiert sind, oder nicht, müssen daher sensibel dafür sein, dass queere Identitäten im Kontakt mit der Familie oder Herkunftsgemeinschaft bestimmte Herausforderungen mit sich bringen können. Hier geht es einerseits um eine mögliche Stigmatisierung, andererseits stammen einige Kinder und Jugendliche aber auch aus Kontexten, in denen beispielsweise Homosexualität strafbar ist. Es ist maßgeblich, dass sie über ihre Rechte in Deutschland aufgeklärt werden und auch verstehen, dass eine Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität ein anerkannter Asylgrund ist. Gleichzeitig dürfen sie aber nicht dazu gedrängt werden, sich zu outen. Das erfordert neben entsprechenden Rechtskenntnissen eine sehr gute kultur- und gendersensible Beratung, um queere Kinder und Jugendliche durch unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten in ihrem Interesse zu navigieren.

Wie können Menschen aus der Szene vielleicht mithelfen, um gegenzuwirken?

Selbst wenn man nur die Zahl eins von fünf zugrunde legt, müssen wir alle davon ausgehen, dass es in unserem Umfeld Kinder und Jugendliche gibt, die sexualisierte Gewalt erleben.

Alle Fachkräfte und Ehrenamtlichen, die mit (geflüchteten) Kindern arbeiten, müssen für den gewaltfreien Umgang mit Kindern geschult werden, müssen mögliche Betroffenheit sexualisierter Gewalt erkennen können und über eine grundlegende Verweisungskompetenz verfügen, welche Hilfsstellen hinzugezogen werden können. Im Bezug auf queere Kinder finde ich den Aspekt der Repräsentation besonders wichtig. Wenn sie aus Kontexten stammen, in denen nicht-heteronormative Identitäten sehr stark tabuisiert sind, muss ihnen umso mehr vermittelt werden, dass sie nicht alleine sind, dass sie akzeptiert werden und dass jede Gewalt, die sie erfahren, Unrecht ist.

Wenn sich Menschen aus der Szene in guten ehrenamtlichen Projekten engagieren, ist das natürlich super, genauso wie wir mehr queere Sozialarbeitende brauchen. Aber auch schon vorhandene Präventions- und Hilfsangebote im Bereich Flucht müssen mehr für die Anbelange von Kindern mit LGBTIQ*-Identitäten geöffnet werden.

Neben einer Sensibilisierung von Fachkräften bedeutet das z. B. den Einsatz von Bild-, Video- und Textmaterial, welches auch Kinder mit queeren Identitäten repräsentiert, damit diese ihre Situation identifizieren können. Diesbezüglich ist Lobbyarbeit ganz wichtig, damit Angebote der Mehrheitsgesellschaft für Kinder aller Geschlechter (und natürlich auch mit unterschiedlicher ethnischer, kultureller oder religiöser Herkunft) bedarfsgerecht gestaltet werden.

*Interview: Christian Knuth

www.worldvision.de / www.schwulenberatungberlin.de

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