Kristall – „Der Rausch läuft nicht weg“

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Foto: gemeinfrei / CC0

Für Eilige die Empfehlung vorweg: „Kristall“ von Alexander Wendt ist das womöglich beste Buch über Drogen, das je veröffentlicht wurde. Es ist unterhaltsam, spannend, umfassend und dabei vollkommen nüchtern und unideologisch.

In zahlreichen interviewartigen Erzählungen und chronologischen Betrachtungen berichtet Alexander Wendt über den aktuellen Drogenkonsum, aus Suchtkliniken, aus der Sicht von Drogenfahndern, von Dealern. Er erklärt, was Menschen an leistungssteigernden Mitteln wie Chrystal Meth so spannend finden und warum das mit der heutigen, auf Optimierung bedachten Gesellschaft zu tun hat. Er geht sogar so weit, einen Blick in die gar nicht so unreale Zukunft zu werfen, wo Biohacking und die Mensch-Maschine auf uns warten und wir auf die chemischen Hilfssubstanzen der Jetztzeit wahrscheinlich nur mit müdem Achselzucken zurückblicken werden.

Genauso müde, wie die Nutzer der chemischen Beschleuniger der Sex- und Arbeitswelt von heute wohl auf die psychoaktiven Substanzen LSD oder Pilze in den 1960ern zurückblicken. Was nutzt mir ein erweitertes Bewusstsein, wenn ich doch eh keine Zeit habe, es zu gebrauchen? Weil ich mit der Befriedigung der Anforderungen an mich – beruflich, privat und/oder auch sexueller Natur – vollkommen ausgelastet, wenn nicht hoffnungslos überlastet bin? Nein, Wendt hypt hier gar nichts, glorifiziert nicht – er beschreibt. Und das so eingängig und kurzweilig, dass der Horror, der da gelegentlich beschrieben wird, gar keiner mehr zu sein scheint.

Genau das macht die Qualität dieses Buches aus: Wir sollten nicht darüber reden, wie und warum Drogen nun bitte aus der Gesellschaft zu verschwinden haben. Das wird nicht funktionieren, wie Wendt auch aus der Geschichte der Substanz-Prohibition ableitet. Wir sollten uns lieber darüber Gedanken machen, in welcher Art von Gesellschaft wir leben wollen. Denn gefährlicher Substanzgebrauch entsteht offenbar fast immer aus gesellschaftlichen Zwängen heraus. Fallen diese Zwänge, würde wohl auch ein entspannterer Umgang mit Substanzen jedweder Art folgen. Der Umbau einer Gesellschaft von Dystopia zu Utopia ist keine Sache für knapp 250 Seiten und auch gar nicht des Autors Zielsetzung.

Deshalb schließt das Buch wohl auch mit dem Nachgefragt eines fiktiven „teilbefriedigten Lesers“ (TBL), dem Alexander Wendt ganz persönlich antwortet: 

TBL: „Wie lautet dein praktischer Rat an einen 17-Jährigen?“

A: „Erst einmal die diversen Beipackzettel lesen. Am besten abwarten. Der Rausch läuft nicht weg.“

Kristall – Eine Reise in die Drogenwelt des 21. Jahrhunderts, 243 Seiten, ISBN: 978-3-608-50353-1, www.tropen.de

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