Michael Reh: „Überlebender von sexuellem Missbrauch“

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Foto: T. Sargent

Der in Dortmund geborene Kosmopolit Michael Reh nahm sich Zeit für einen Chat mit uns.

Viele kennen dich als Fotografen, du bist aber auch – und das erfolgreich – Buchautor. Das Schreiben musste lange warten, oder?

Ja und nein. Ich habe Literatur in Hamburg und Paris studiert. Meinen ersten Roman „Katharsis“ habe ich bereits 2005 begonnen zu schreiben. Es hat nur sehr lange gedauert, bis ein Verlag den Mut hatte, das Buch zu veröffentlichen. Aber mein Job als Fotograf bestimmte mein Leben weitreichend bis zur Pandemie. Seitdem hat sich vieles geändert. Die Branche und ich mich natürlich auch! Ich arbeite nach wie vor, aber mein Interesse gilt jetzt genauso dem Schreiben. Ein faszinierender Prozess, in dem ich viel lerne, mich vollkommen einbringe und eine eigene Welt kreieren kann, mit eigenen Charakteren. Faszinierend und sehr beglückend. Und sehr einsam! Aber das stört mich nicht. Kreativität auszuleben ist für mich immens wichtig! Im September erscheint auch mein neuer Krimi: „Das grausame Erbe des Konrad Corbis“. Natürlich arbeite ich weiter als Fotograf, aber nicht nur kommerziell für Mode. Ich habe gerade nach drei Jahren ein Kunstprojekt über den amerikanischen Designer Gene Burk abgeschlossen: „Looking for Gene“ wird, so geplant, in 2023 das Licht der Kunsthallen erblicken, ein Bildband ist geplant.

Deine Themen sind sehr ernst, sexueller Missbrauch etwa.

Genau, zumindest was „Katharsis“ betrifft. Ich habe hier meine eigenen Erfahrungen als Überlebender von sexuellem Missbrauch in Romanform verpackt. Es ist auch ein spannender Familienthriller, die Chronik meiner Familie des Schweigens. Familie ist leider oft die Wurzel vieler Traumata und mich interessiert immer das Warum. Woher kommen wir, warum handeln wir so, wie wir es tun? Sind wir eigen- oder fremdbestimmt? Ich finde es immens wichtig, sich selbst zu durchschauen – nicht immer einfach. Und das wird immer schwieriger in einer Welt, in der wir mehr und mehr isoliert leben und Bilder auf den Social Media uns ein Leben vorgaukeln, das es oft nicht gibt. Da seine Identität zu finden, ist nicht einfach. Ich beleuchte in meinen drei Romanen genau das, und auch mein Inspektor Heiko Degen, der in ASTA und KONRAD die Fälle lösen muss, wird ständig auf die Probe mit sich selbst gestellt, auch und gerade, was sein Schwulsein betrifft. Auch er geht, wie die meisten meiner Figuren, durch einen Prozess und muss sich, wenn er ehrlich sein will, immer wieder infrage stellen. Vermeidung nützt da nichts. Ich finde seine Entwicklung extrem spannend und merke auch da, dass meine Figuren ein Eigenleben entwickeln. Sehr spannend!

Wie hast du deine Traumata verarbeitet?

Ich tue es immer noch. Jeden Tag. Schwulsein war für mich nie ein Problem, das war es eher für meine Familie oder die Gesellschaft. Rosa von Praunheim hat das schon vor einem halben Jahrhundert wunderbar in einem Filmtitel ausgedrückt: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt“. Mein Haupttrauma war natürlich der sexuelle Missbrauch durch meine Tante, der acht Jahre lang dauerte und der mich als Kind und Jugendlicher in eine Isolation außer- und innerhalb meiner Familie trieb. Ein Lebensthema! Die Verletzung, von seiner Familie ausgeschlossen zu werden, teilweise von einigen bis heute, schmerzt, ist aber überlebbar. Natürlich haben mir meine Freunde geholfen, auch habe ich einige Therapien gemacht. Wie gesagt, Ehrlichkeit ist ein einsames Wort, auch mit sich selbst. Schmerzhaft, aber notwendig. Nur so kannst du überleben. Im Moment arbeite ich an einem neuen Buch, in dem ich meine Geschichte als Überlebender verarbeite. Diesmal in Form eines sehr offenen und schonungslosen Ratgebers für andere Überlebende, deren Familie und Freunde. Missbrauch ist nach wie vor ein extrem tief verwurzeltes gesellschaftliches Tabu, und es bedarf immenser Aufklärung und Erhellung.

Wie definierst du dich in erster Linie: queer, schwul, Mensch?

Heute auf jeden Fall als Mensch, ich bin ja schon etwas länger dabei und habe viele Phasen in meinem Leben durchgemacht. Schwulsein, der Fakt, dass ich auf Männer steh, ist immer ein Teil meines Lebens gewesen und nicht mein Lifestyle. Das Wichtigste ist Akzeptanz sich selbst und anderen gegenüber. Nicht immer einfach in unserer multikulturellen und sehr diversen Gesellschaft, egal wo in der westlichen Welt. Integration statt Separation war und bleibt immer mein oberstes Gebot!

Worauf freust du dich in 2022?

Natürlich auf den 20. September, wenn mein neues Buch „Das grausame Erbe des Konrad Corbis“ erscheint. Ich werde dann natürlich auch in Deutschland auf Pressetour sein und meine Freunde in Hamburg, Berlin und München treffen.

*Interview: Michael Rädel

michaelreh.com

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