Jendrik: Hey!

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Foto: Selfie

Auf einmal ist er da: Jendrik Sigwart, 26 Jahre alt, Hamburger und von Beruf Musicaldarsteller, war ein komplett unbeschriebenes Blatt, als er im Februar von der zuständigen Jury zum deutschen Teilnehmer am diesjährigen Eurovision Song Contest am 22. Mai in Rotterdam auserkoren wurde. Sein federleicht klingender Popsong „I Don’t Feel Hate“ geht ohne Umwege in die Ohren, hat eine sinnvolle Botschaft und eine Ukulele. Aber wer ist dieser Typ überhaupt? Am Telefon erlebten wir einen aufgeweckten, quirligen und komplett sympathischen Jendrik.

Der Name Jendrik ist ziemlich ungewöhnlich. Gibt es dazu eine Geschichte?

Es ist einfach so, dass meine Eltern Namen mögen, die ein bisschen besonders sind. Oder sie haben herkömmlichere Namen genommen und einfach einen Buchstaben ausgetauscht. So wie bei mir. Oder bei meinem älteren Bruder Marten. Tatsächlich habe ich in meinem gesamten Leben bisher nur einen einzigen anderen Jendrik kennengelernt.

Wie viele Geschwister hast du?

Vier. Die fiebern jetzt natürlich alle mit mir mit. Aber ich bin definitiv der einzige richtige Mega-ESC-Fan in der Familie.

Wie sehr bestimmt die Teilnahme am Eurovision Song Contest momentan dein Leben?

Tatsächlich ist mein Leben aktuell noch recht entspannt. Vorhin hatte ich sogar noch Zeit zum Playstation-Spielen.

Was hast du gespielt?

„Dead by Daylight“. Das ist ein Horrorspiel, das man online mit mehreren Leuten spielt. So eine Art virtuelles Versteckspiel. Mir macht das sehr viel Spaß, obwohl ich mir Horrorfilme absolut nicht angucken kann.

Warum das nicht?

Weil ich vor ihnen Angst habe. (lacht) Ich bin sehr schreckhaft, und einmal musste ich während eines Gruselfilms im Kino total laut schreien. Ich konnte es einfach nicht unterdrücken und habe mich ein bisschen geschämt.

Obwohl du keine Horrorfilme guckst, hast du dir also doch einen angeschaut.

Zwei Freunde und ich. Wir sind immer zu einer ganz bestimmten Uhrzeit ins Kino gegangen und haben dann grundsätzlich den Film ausgesucht, der als Nächstes lief.

Warst du beliebt in der Schule?

Innerhalb unserer Klasse war ich einer von den „coolen“ Kids, aber nach außen galten wir komplett als die Loser- und Opferklasse. Also ja und nein. Ich selbst war auch beides: der Mobber und der Gemobbte.

Foto: M. Rädel

Die Aussage deines ESC-Songs ist ja, dass du auf Hass nicht mit Gegenhass, sondern mit Gelassenheit und Mitleid reagierst. Erinnerst du dich, wann und warum du dieses Lied geschrieben hast?

Als wäre es gestern gewesen! Das war im Frühsommer 2019, nachdem mich eine andere Person respektlos und von oben herab behandelt hat. Ich dachte „Was bist du für ein übler Mensch“, aber dann beschloss ich, eben nicht aggressiv auf diesen Angriff zu reagieren. Denn dadurch lernt die oder der andere nichts. Stattdessen habe ich der Person ganz ruhig gesagt, dass ich ihr Verhalten respektlos finde. Daraus ist dieser Song entstanden.

Funktioniert dieses Konzept?

Sehr häufig ja. Wobei es, grob gesagt, zwei Arten von Anfeindungen gibt: Auf oberflächliche Sprüche wie „Deine Frisur finde ich scheiße“ reagiere ich überhaupt nicht. So was ist mir echt egal, denn ich mag meine Frisur ja. Bei wirklich diskriminierenden Beleidigungen, bei Homophobie oder Rassismus sollte man aber immer etwas sagen. Man sollte dem anderen klarmachen, dass das, was er sagt, absolut falsch ist. Diesen Weg versuche ich in dem Song aufzuzeigen.

Auf eine sehr unterhaltsame Weise.

Klar. Ich habe „I Don’t Feel Hate“ ja auch geschrieben, um gute Laune zu verbreiten und negative Gefühle in etwas Positives zu verwandeln.

Hast du persönlich Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht?

Natürlich. In letzter Zeit vor allem online. Kommentare wie „Du Schwuchtel“ gibt es immer wieder. Ich reagiere sachlich darauf und antworte: „Das verletzt mich.“

Vielleicht bin ich naiv, aber ist das nicht irre, dass die Leute einen beschimpfen, weil man schwul ist?

Ja. (lacht) Ich denke auch, wir müssten doch eigentlich längst schon so weit sein, dass das nicht mehr vorkommt. Leider kommt es sogar sehr häufig vor. Aber es wird weniger. Insgesamt akzeptieren die Menschen mehr und mehr, dass die Gesellschaft divers ist. Und dass Vielfalt bereichert.

Wann wusstest du, dass du schwul bist?

Relativ spät. Vielleicht habe ich meine Sexualität auch verdrängt. Richtig klar ist mir mein Schwulsein erst während des Studiums geworden.

Du hast am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück Musical studiert. Hattest du so etwas wie ein Schlüsselerlebnis?

Ich habe mich einfach verliebt. In der Musical-Welt und im Theater generell sind die Menschen sehr offen. Dort kann jeder so sein, wie er will. Und ich erkannte halt: „Oh, sieht so aus, als mag ich Männer.“ Seitdem bin ich immer offen damit umgegangen. Ich hatte auch kein klassisches Coming-out wie die meisten. Zum Glück.

Wieso zum Glück?

Wenn man sich als schwuler Mann erklären muss, dann macht es die Sexualität zu etwas Besonderem. Aber das ist sie ja eben nicht. Sie ist normal. Ein heterosexueller Mensch muss sich ja auch nicht outen.

Du hast nach deinem Studium unter anderem in Peter Pan, Hairspray und My Fair Lady mitgespielt. Waren Musicals immer dein Ding?

Schon in der Grundschule habe ich im Theater mitgespielt, doch so richtig entdeckt habe ich die Welt der Bühne während meines Auslandsjahrs in den USA mit 16, 17. Vorher hatte ich mich immer ein bisschen verstellt und war darauf bedacht, cool zu wirken. Die Kids an der Highschool jedoch scherten sich nicht darum, was andere von ihnen hielten. Wenn die Mangas mögen, dann malen sie in der Schulkantine eben Mangas. So wollte ich auch sein.

Wo bist du gewesen?

In der Nähe von Grand Rapids in Michigan. In dem Jahr bin ich sehr gewachsen. Ich habe danach besser gewusst, wie ich charakterlich sein will und was mir am Charakter anderer Menschen wichtig ist. Ich bin dort sehr viel selbstbewusster geworden.

Wie viel Selbstvertrauen hast du denn gebraucht, um zu sagen „Ich habe hier diesen Song, den schicke ich jetzt zum NDR, denn ich möchte am ESC teilnehmen“?

Dafür brauchte ich einfach nur meine Naivität. Es war ja auch ganz viel Glück dabei, dass das geklappt hat. Hätte ich gewusst, was dieser Vorentscheid für ein langer Prozess mit zwei Jurys und mehreren Stufen ist und welche tollen Künstler da teilnehmen, hätte ich nie gedacht, dass ich mich mit meinem Song durchsetze. Aber: Hey!

Du hast „I Don’t Feel Hate“ im Sommer aufgenommen und eine Reihe von lustigen No-Budget-Clips zur Entstehung des Songs und des Songvideos in den sozialen Medien geteilt. Unter normalen Umständen hättest du auf irgendeiner Musicalbühne gestanden. War Corona dein Glück?

Wenn, dann war es mein Glück im Unglück. Zu sagen „Corona war gut für mich“, ist totaler Quatsch. Viele meiner Freunde aus dem Musicaldarstellerbereich sind seit einem Jahr arbeitslos, so mancher lebt inzwischen von Hartz IV.

Hast du denn an deine Chance geglaubt?

Nee, nicht in diesem Jahr. Mein Traum war eher, dass ich es irgendwann mal schaffe, zum ESC zu fahren. Spätestens mit achtzig und natürlich dann immer noch als steppender Sänger mit Ukulele.

Warst du immer ein treuer ESC-Zuschauer?

Voll. Als Kind habe ich das schon immer geguckt, das war bei uns ein Familienevent. Während des Studiums hat ein Freund und Kommilitone immer ein Riesenspektakel zum ESC veranstaltet. Wir saßen vor dem Fernseher, haben unsere Punkte verteilt, und es gab bei jedem Lied ein landestypisches Schnäpschen. Jägermeister für Deutschland, Wodka für Russland, Ouzo für Griechenland und so weiter.

Und so weiter? Im ESC-Finale starten ungefähr 25 Nationen.

Man war immer gut angetrunken. Aber niemals so besoffen, dass man die Punktevergabe am Ende nicht mehr mitgekriegt hätte.

Was begeistert dich so am ESC?

Die Diversität. Das Farbenfrohe. Beim ESC hat wirklich jeder eine Chance. Du kannst als Mann mit Bart in Frauenkleidern und Make-up auf der Bühne stehen und super ankommen. Ich liebe es, wie sich dort Menschen aller Länder, Sexualitäten, Religionen und Weltanschauungen treffen und zusammen feiern.

Sind dieses Jahr eigentlich Zuschauer in Rotterdam dabei?

Meines Wissens sind 3.500 Leute in der Halle zugelassen, alle getestet. Aber das kann sich auch noch ändern.

Dein liebster ESC-Moment?

Als Alexander Rybak 2009 mit seiner Geige für Norwegen gewann. Ich habe als Kind selbst lange Geige gespielt und fand es super, dass die Geige auch einen Platz in der Popmusik hat. Lenas Sieg ist natürlich in Erinnerung geblieben. Auch Michael Schulte. Und „Standing Still“ von Roman Lob habe ich damals bei unserem Abiball gesungen.

Die Ukulele, die du spielst, ist keine Geige. Wie bist du an die Ukulele geraten?

Ich muss etwas ausholen: Meine Schwester hatte sich vor Jahren zum Geburtstag eine Ukulele gewünscht und auch bekommen. Als sie auf dem Tisch lag, habe ich sie mir einfach geschnappt und nicht mehr zurückgegeben. Meine Schwester kann bis heute keine Ukulele spielen. Ich schon. Mich hat das Instrument vom ersten Moment an begeistert. Sie ist auch superleicht zu lernen. In zwei Wochen kannst du mit ein bisschen Üben wirklich ordentlich spielen.

Wie soll es nach dem ESC mit dir weitergehen?

Der Plan ist, dass ich meine eigene Musik rausbringe. Ich schreibe eigene Songs, seitdem ich 18 bin. Ich habe mich bisher nur nie getraut, die zu zeigen. „I Don’t Feel Hate“ ist das erste meiner Lieder, das richtig aufgenommen und produziert wurde. Schon so weit gekommen zu sein, ist für mich ein Zeichen dafür, dass es ein paar Leute da draußen gibt, die meine Musik mögen.

Willst du das Ding eigentlich gewinnen?

Ja! Wenn man an einem Wettbewerb teilnimmt, dann will man natürlich auch Erster werden. Das ist doch klar. Aber ich bin auch nicht traurig, wenn ich nicht gewinnen sollte. Überhaupt teilzunehmen ist fantastisch. Das kann alles nur toll werden.

*Interview: Steffen Rüth


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