Placebo: Das Fuck-you-Album

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Foto: M. Perch

Mit fast 50 ist Placebo-Frontmann Brian Molko so aufgebracht und energisch wie noch nie. Für „Never Let Me Go“, dem nach beträchtlicher Pause achten Studioalbum des Duos, ist des Sängers Frust freilich ein Segen.

Mit solch einer sanften Stimme so vollumfänglich stinksauer zu sein, das kann auch nur Brian Molko. „Wenn du nicht vollständig befreit von jeglicher Empathie und menschlichen Gefühlen durchs Leben gehst, dann kannst du doch gar nicht anders, als vor Wut schier auszuflippen“, so der Sänger von Placebo. „Gucken wir doch nur mal kurz auf das ganz grobe Bild: Ungerechtigkeiten an jeder Ecke, mutwillige Umweltzerstörung, Rechtsextremisten noch immer auf dem Vormarsch, exzessive Überwachungsmechanismen, verwöhnte Verschwörungsschwachköpfe, die nur rummaulen, statt sich impfen zu lassen, der Brexit, und über allem steht als Quelle des Unheils die krankhafte Profitgeilheit in der westlichen Welt.“ Nein, nein, er ist noch nicht fertig. „Das ist alles so absurd und widerlich, und wenn sich nicht ganz grundlegend etwas ändert, dann wird unser naiver Glaube an den Kapitalismus schon bald dafür sorgen, dass wir uns selbst von diesem Planeten radieren.“ So. Molko teilt seine überaus tadelnde Tirade, am Telefon aus London, wo er gerade zusammen mit seinem Bandkompagnon Stefan Olsdal für kommende Konzertaufgaben trainiert, in einer völlig ruhigen, wenngleich beschwörenden Tonlage mit.“

Aber, und da sind wir auch schon bei „Never Let Me Go“, dem ersten neuen Placebo-Studioalbum seit „Loud Like Love“ vor satten neun Jahren: Der Ärger des an und für sich introvertierten Frontmanns ist ein Segen für die neuen Lieder. Ewig nicht klang Placebo so beherzt und überwältigend kraftvoll wie auf den neuen Songs. Verve und Dringlichkeit von Stücken wie „Twin Demons“ (handelt von Corona plus Brexit), „Try Better Next Time“ (handelt von der Apokalypse) oder „Fix Yourself“ (handelt von Moralapostel*innen, die erstmal ihr eigenes Leben aufräumen sollen, bevor sie anderen vorschreiben, wie man zu leben habe) erinnern an die frühen Placebo, die Mitte der Neunziger mit glamourösen Hits wie „Nancy Boy“ oder „Pure Morning“ dem Britpop das Fürchten lehrten. „Ja, ohne meine Wut und meine Aggressionen gäbe es diese tosende, aufgewühlte und themenmäßig gewichtige Platte nicht“, meint auch Molko.

Zuvor hatte die Band so richtig auf der Kippe gestanden. Fast wären Brian Molko (der Ende des Jahres auch schon 50 wird) und Stefan Olsdal ja nach der mehrjährigen Jubiläumswelttournee zum 20-jährigen Bestehen sowie dem Greatest-Hits-Album „A Place for Us to Dream“ final ihrer individuellen Wege gegangen. Vor allem der Sänger fühlte sich geschlaucht und ausgepowert nach der, wie er es ausdrückt, „zweijährigen Masturbationsübung, bei der wir uns permanent selbst gratulieren und wo es nur ums Geld ging“. Aber dann habe Brian Molko mit Hilfe eines Therapeuten nach etlichen Jahren endlich seine Drogensucht, über deren für ihn selbst beschämendes Ausmaß er sehr offen im Song „Went Missing“ berichtet, soweit überwunden, dass sein Lebenswandel heute „sehr, sehr viel moderater“ sei. „Und ich habe die Welt plötzlich viel klarer gesehen. Die Folge? Das fokussierte „‘Fuck You‘ von einem Album“, das aber, man höre und staune, auch seine versöhnlichen Augenblicke hat. Das erhaben orchestrale „The Prodigal“ etwa oder die erste Single „Beautiful James“, in der es um eine queere Liebe geht. „Im Bereich der Sexualität und der Diversität immerhin haben wir in der Tat Fortschritte gemacht“, lässt sich Brian dann auch mal was Positives entlocken, „aber: Populismus und die Ablehnung von nicht-heterosexueller Liebe sind noch immer viel zu weit verbreitet, selbst in Europa.“ Er selbst, geboren in Belgien und aufgewachsen in Luxemburg, habe für seinen Teil indes eine Entscheidung getroffen, die seiner psychischen Verfassung sehr gutgetan habe. „Vor genau einem Jahr habe ich Großbritannien den Mittelfinger gezeigt und bin aus London fortgezogen.“ Brian Molko lebt nun, Genaueres will er aus Gründen der Privatsphärenpflege nicht verraten, „irgendwo in Europa.“ *Steffen Rüth

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