Voller Tatendrang!

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Fotos: Michel Kubig

Michel Kubig ist seit seiner Kindheit auf einen Rollstuhl angewiesen. Um trotzdem ein selbstbestimmtes Alltagsleben zu führen, wurde der heute 29-jährige und in der Nähe von  Gießen Lebende aktiv, organisierte sein Leben neu und gründete das Projekt „Von Handicap zu Handicap“, um anderen Menschen mit Handicaps zu helfen.

Beim CSD Frankfurt ist Michel Kubig am Samstag im Anschluss an die Demo als Redner auf der Hauptbühne zu Gast und stellt „Von Handicap zu Handicap“ vor. Wir haben ihn vorab zum Interview gebeten.


Michel, du hast das Projekt „Von Handicap zu Handicap“ gegründet – wie kam es dazu und wofür setzt sich das Projekt ein?

Meine Mutter ist 2015 erkrankt. Dann musste ich sehr schnell mein Leben umplanen, denn es war sehr schnell klar, dass sie mich nicht mehr pflegen und betreuen kann. Da habe ich mich an den Landeswohlfahrtsverband in Hessen gewandt, der mir den Tipp gegeben hat, einen Plan zu machen, wo man selbst Assistenz aussuchen und einstellen kann. Ich habe mir dann über alle öffentlichen Register Assistenten gesucht, und bin so in mein eigenes Leben mit Assistenz gestartet. Ich habe mir über zwei Jahre mein eigenes Leben aufgebaut. In meiner eigenen Wohnung, damit ich mit Behinderung so gut es geht selbstständig leben kann. Ich wollte dann auch beruflich etwas aus dem machen, was ich selbst erlebt habe, weil ich am besten weiß, was die Menschen brauchen. Ich habe dieses Projekt gegründet, damit jeder Mensch mit Behinderung die Möglichkeit hat, selbständig in den eigenen vier Wänden zu leben.

Wir helfen dabei, Assistenten und Pflegedienste zu finden, die Finanzierung über verschiedene Kostenträger zu klären, wir helfen bei der Wohnungssuche und eben bei allem, was die Menschen brauchen, und was sie sich so vorstellen, damit man so leben kann, wie man das selbst für richtig hält.

Wie kann man mit dir in Kontakt treten?

Am besten schildert man das Anliegen per E-Mail oder geht über unsere Facebookseite. Früher ging das auch telefonisch, aber das konnten wir dann gar nicht mehr stemmen. Wenn dann gewünscht wird, dass man sich trifft, machen wir auch einen Kennenlerngespräch, ein Erstgespräch, wo ich mir die Person anschauen kann, ihre Lebensgeschichte erfahre und vielleicht im persönlichen Gespräch noch rausfinden kann, was für die Person besonders wichtig ist. Telefonisch geht das natürlich auch.

Ist das Angebot auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt?

Nein, das Projekt ist wirklich bundesweit. Wir wollten das ursprünglich mal nur regional anbieten. Nachdem ich das Projekt bei Hitradio FFH vorstellen durfte und dann weitere Fernseh- und Radioanfragen kamen, wurde das Projekt sehr schnell und sehr kurzfristig sehr groß. Dann habe ich gedacht, gut, dann machen wir es überregional. Ich bin ja auch mobil, wir haben ein eigenes Auto, ich kann ja auch Bus und Bahn fahren. Da bin ich ja Gott sei Dank relativ gut aufgestellt.

Wie hast du dein eigenes Leben mit deinen Assistenten gestaltet?

Ich bin vor fünf Jahren mit 12 Assistenten gestartet, auch aus dem Grund, weil die Assistenten oft nur 450-Euro-Kräfte sind, die nur ein bestimmtes Stundenlimit arbeiten dürfen. Und weil ich zum Beispiel auch nicht allein auf die Toilette kann oder wenn nachts mal was ist, sind die Assistenten in der Regel mit drei Tagen im Monat ausgelastet. Deswegen brauchten wir am Anfang relativ viele. Das war dann immer im Wechsel, also einer am Montag und Dienstag, dann Mittwoch und Donnerstag und so weiter. Die Wochenenden wurden dann komplett von einer Person übernommen, die machte dann für einen Monat nur die Wochenenden.

Aktuell hat es sich ein wenig geändert: Ich habe vor zwei Jahren meinen Mann kennengelernt und geheiratet. Und dann gibt es natürlich auch Tage, wo wir allein sein wollen. Jetzt haben wir nur noch drei Assistenten, die machen Teilzeit und dürfen auch ein bisschen mehr verdienen als die 450-Euro-Kräfte.

Es ist also keine 24-Stunden-Pflege?

Nein, das ist aber auch das, was mein Projekt so besonders macht. Weil ich gesagt habe, so möchte ich nicht leben. Ich möchte nicht 24 Stunden dieselbe Person oder überhaupt Personen um mich herum haben. Am Anfang war das schon wie eine WG, bloß dass immer der Assistent als Mitbewohner gewechselt hat. Jetzt kommen sie nach Bedarf und ansonsten wohne ich mit meinem Mann allein. Morgens kommt noch der Pflegedienst. Das sind zwei ausgebildete Pflegerinnen, die helfen dann beim Waschen, beim Haushalt, bei all diesen Dingen, die so anfallen. Die Assistenten sind bei Hilfestellungen im Alltag da und auch als Freizeitassistenten, damit ich mich ungestört auch frei bewegen und auch völlig unabhängig von meinem Mann sein kann. Es war mir immer ganz wichtig, dass ich nicht von meiner Familie abhängig bin, sondern dass ich ganz unabhängig bin, von meiner Schwester, von meinem Mann von wem auch immer.

Das ist ja auch ganz normal für eine junge Person, die ins Leben startet!

Naja, ganz so jung bin ich ja jetzt auch nicht mehr! Aber damals war das auch der schwerste Schritt, weil ich am Anfang keine Ahnung hatte, wie ich Hilfe suchen und finden kann. Wie finde ich richtige Ansprechpartner? Das war dann auch einer der Gründe, wieso ich das Projekt gegründet habe, weil viele Leute mit Einschränkungen gar nicht wissen, wo sie Hilfe suchen können. Wie funktioniert das, und wie kann ich so umgehen, dass ich eben nicht ins Pflegeheim muss, sondern in meiner eigenen Wohnung bleiben kann.

Welche Alternativen hätte es damals für dich gegeben?

Naja, wenn ich es damals nicht geschafft hätte, alles selbst zu organisieren, hätte es für mich nur das Pflegeheim gegeben. Sagen wir‘s, wie es ist! Ein Pflegeheim, wo Menschen mit geistiger Behinderung leben. Wo man dann ein Zimmer hat, wo man nicht selbstbestimmt leben kann, wo man 24 Stunden ist. Und da bist du dann halt einer von Vielen, musst zu einer bestimmten Zeit aufstehen, zu einer bestimmten Zeit Mittag essen und zu einer bestimmten Zeit ins Bett gehen.

Das wolltest du auf keinen Fall?

Nein! Ich habe vor Gründung meines Projekts in der Verwaltung bei der Lebenshilfe gearbeitet, und da war ich auch ganz nah an vielen Schicksalen dran. Und ich dachte mir immer: Arbeiten im Büro mache ich gerne, aber ich könnte niemals in diesen Pflegeheimen oder in diesen Einrichtungen leben und wohnen. 

Fotos: Michel Kubig

Was sind für dich die größten Alltags-Hürden?

Die größte Alltagshürde, die momentan schwierig ist, ist generell wie überall die Pflege. Zum Beispiel wenn der Pflegedienst ausfällt. Wir hatten ja beide Corona, das war dann extrem schwer, weil wegen der Ansteckungsgefahr natürlich beide schauen mussten. Denn wenn die Leute sich anstecken, bricht das ganze Pflegesystem komplett zusammen. Ansonsten brauche ich Hilfe im kompletten Alltag, also das heißt, ich kann mich zwar obenrum fertig machen, mich anziehen, Zähneputzen und so weiter, aber ich brauche eben leichte Hilfestellung beim Umsetzen in die Dusche oder auf die Toilette. Da muss immer jemand da sein, und das geht gut, solange die Leute nicht krank werden, solange die Leute nicht ausfallen. Aber es ist Corona, es gibt auch die Grippezeit, und das geht natürlich auch an mir nicht spurlos vorbei. Ich habe das Glück, das zur Not meine Schwester da ist. Sie wohnt nur zwei Straßen weiter. Und mein Mann ist aktuell nur an bestimmten Tagen berufstätig, weil er noch warten muss, bis die Ausbildung beginnt. Dann ist er natürlich da, wenn zur Not was ist. Irgendwie können wir das auch gut stemmen, aber Corona und der Lockdown war schon eine ganz, ganz schwierige Zeit.

Hast du das Gefühl, in der Wahrnehmung oftmals auf dein Handicap „reduziert“ zu werden? Wie gehst du damit um?

Ich habe Gott sei Dank nicht das Gefühl, dass mich Leute auf mein Handicap reduzieren. Ich glaube, ich bin eine sehr offene Person und gehe mit meinem Schicksal sehr offen um. Ich nehme die Dinge so wie sie kommen und versuche immer, das Beste daraus zu machen. Ich bin halt auch extrem sportlich, mache viel Kraftsport, und versuche immer, gerade auch wenn ich in die Öffentlichkeit gehe, selbstständig zu sein, mich viel zu bewegen oder auch viel zu sprechen. Damit die Leute, und insbesondere Kinder, merken: Der kann sprechen! Wenn ich ihn mustere, dann kriegt er das mit, dann nimmt er das wahr. Und wenn jemand kommt und fragt, gehe ich damit ganz offen um. Ich glaube, das ist das Beste, was man machen kann.

Die Behinderung gehört zu mir, so wie alles andere auch zu mir gehört. Das war natürlich ein langer Lernprozess. Ich hab vier Burnouts hinter mir, ich habe eine Bulimie hinter mir, und als meine Mutter damals im Koma lag, wollte ich mir das Leben nehmen. Gott sei Dank hat das nicht funktioniert. Ich bin dann durch ganz viele Therapien, ganz viele Gespräche und mit ärztlicher Behandlung immer wieder aufgestanden. Und das ist das, was mich heute ausmacht und auch so stark macht.

Du bist auch kulturell aktiv: Du schreibst an einem Buch, um was geht es da? 

Mit Corona ging das natürlich alles langsamer als geplant, aber wir schrieben fleißig und ich gehe stark davon aus, dass es dieses Jahr auch fertig wird. Das Buch heißt „Von Handicap zu Handicap“. Und es geht einmal natürlich um mein Projekt. Dann handelt es aber auch von meinem Leben und meiner Krankheitsgeschichte. Es geht auch um verschiedene Klienten, um deren Schicksale und deren Leben, und es soll natürlich auch so eine Art Ratgeber sein, mit Telefonnummern und Infos, wie die Dinge funktionieren, wenn es ums selbstständige Leben es geht.

Eine Herzensangelegenheit ist dein Musikprojekt?

Ja, ich habe ja schon vor sechs Jahren Musik gemacht und war auch deutschlandweit damit unterwegs. 2016 hatte ich dann meinen letzten Auftritt beim Stadtfest in Mittelhessen. Damals lag man in Großvater im Sterben, und als nach Hause kam, war es passiert. Da habe ich dann entschieden, erst mal keine öffentlichen Auftritte zu haben und keine Musik mehr zu machen. Dann kamen bei mir auch noch einige Schicksalsschläge. Der CSD in Gießen hat mich schließlich für dieses Jahr angefragt, ob ich bereit wäre, dort wieder dabei zu sein. Da bin ich 2013 schon mal aufgetreten. Dann habe ich gesagt: Okay, dann mache ich jetzt mein Comeback! Jetzt ist die Zeit, jetzt bin ich älter, weiser und erwachsener! Bei meinem Comeback-Auftritt zum CSD Mittelhessen in Gießen am 25. Juni werde ich auch vom Hessischen Rundfunk begleitet. Und das wird mit Sicherheit ganz großartig! 

Welche Art von Musik machst du? Sind es eigene Songs? 

Ich mache Schlager und ich singe eigene Songs, aber auch Coverversionen. Ich habe zum Europäischen Jahr für Menschen mit Behinderungen zwei Lieder geschrieben, da geht es um Menschen mit Behinderung, die werde ich präsentieren, dann werde ich ein paar Coversongs machen und ein paar neue Songs, eben eine bunte Mischung! 

Beim CSD Frankfurt bist du auch dabei?

Ja, ich werde aber nicht als Sänger auftreten, da war es wohl schon ein bisschen zu spät für die Planung des Bühnenprogramms. Aber die fanden mein Projekt interessant. Sie haben dann vorgeschlagen, das Bühnenprogramm mit Musik nächstes Jahr zu machen, und in diesem Jahr eine kleine Vortragsreihe zum Projekt, und das hat dann auch ganz gut gepasst.Ansonsten steht im Juli noch 40 Jahre Stadtfest Marburg an, da habe ich sogar zwei Mal zwei Auftritte an verschiedenen Tagen, das wird auch mega spannend. Und dann mal sehen, was noch so passiert. Während der Pandemie habe ich mich lange genug ausgeruht und wir konnten ja auch wenig bis gar keine persönlichen Termine mit Klienten machen. Alles nur telefonisch, weil da ja auch oft Leute dabei sind, die man anstecken kann und die das dann nicht überleben würden. Ja, und deswegen bin ich voller Tatendrang und freue mich, dass es endlich wieder mit allem losgeht!

Kontakt zum Michel Kubig und seinem Projekt über www.von-handicap-zu-handicap.de


Michel Kubig wird am CSD Mittelhessen am 25.6. mit seinem Musikprogramm teilnehmen sowie am Frankfurter CSD-Samstag, dem 16.7., nach der Demo auf der Hauptbühne der Konstablerwache sein Projekt „Von Handicap zu Handicap“ vorstellen.

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