CAPITAL REGION: Süßes oder Saures?

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Sie sind schwul und Meister ihres Fachs: ob 3-Sterne-Koch Patrick O’Connell, die Bäcker Jason Becton und Patrick Evans oder Mike Koch und Pablo Solanet, deren Ziegenkäse zu den besten des Landes zählt. Sie alle leben in der Capital Region, zu der neben der US-Hauptstadt Washington, D.C., die Bundesstaaten Virginia und Maryland gehören und in der ländliches Leben auf wilde Wälder, amerikanische Bürgerkriegsgeschichte auf kulinarische Erfolgsstorys trifft.

Foto: Dirk Baumgartl

Sein sonores Lachen könnte von einem erfolgreichen Opernsänger stammen, doch „Chef Patrick“, wie er von allen nur genannt wird, hat eine andere Karriere eingeschlagen und das Kochen zur Kunstform erhoben. Seine regional und saisonal ausgerichtete Küche kreierte der Koch lange vor dem heute allgegenwärtigen „Von der Farm auf den Tisch“-Konzept. Dafür hat der mit drei Michelin-Sternen Ausgezeichnete nicht nur den James Beard Award für sein Lebenswerk erhalten (den man laut Chef Patrick normalerweise bekommt, kurz bevor man das Zeitliche segnet), sondern wurde auch mit der National Humanities Medal aus der Hand des amerikanischen Präsidenten geehrt – beides Auszeichnungen, auf die der Koch besonders stolz ist. Sich auf den Lorbeeren auszuruhen, liegt dem 76-Jährigen allerdings nicht. „Kochen ist wie Theaterspielen, jeden Tag muss man seine Leistung aufs Neue bringen, man kann sich nicht darauf ausruhen, was man bisher erreicht hat.“ Auf die Frage, ob er sich denn wohl dabei fühlt, von den Medien als der „Papst der amerikanischen Küche“ bezeichnet zu werden, antwortet Chef Patrick mit eben jenem charakteristischen Lachen: „Einer muss es ja sein“.

Rasenmähen und Kochen

Die Geschichte von Patrick O’Connell ist zugleich die Geschichte der Region rund um das kleine Städtchen Washington, Virginia, das etwa eine Autostunde westlich der amerikanischen Hauptstadt liegt. Bevor sich O’Connell nach dem College für ein Jahr nach Europa aufmachte, kaufte er sich unweit seines heutigen Restaurants eine kleine Hütte, um zu verhindern, dass er seine gesamten Ersparnisse in Europa auf den Kopf haut. „Das Grundstück, das ich Leuten aus den Bergen abgekauft hatte, bestand aus einem alten Schulbus, an dem ein kleiner Verschlag angebaut war – es sah aus wie die Kulisse für einen seltsamen Film“, so Chef Patrick. Nach seiner Rückkehr verliebte er sich und zog mit seinem Partner auf eine kleine Farm in der Nachbarschaft. Aber es gab keine Arbeit. Sie mähten Rasen, strichen Häuser und fingen schließlich an, für Partys anderer zu kochen – obwohl keiner von beiden eine entsprechende Ausbildung hatte. „Die Essenskultur in der Region war traurig, der nächste Supermarkt vierzig Meilen entfernt“, so Chef Patrick. „Schließlich wurden wir gefragt, warum wir kein Restaurant eröffnen, und so entschlossen wir uns, einen halben Raum innerhalb einer Tankstelle in Little Washington zu mieten. Wenige Wochen nach der Eröffnung 1978 kam ein Kritiker aus Washington vorbei und veröffentlichte einen Artikel, der uns als bestes Restaurant in einem Umkreis von 150 Meilen beschrieb. Tags darauf kamen 75 Gäste und die folgenden zehn Jahre vergingen wie im Rausch.“

Foto: The Inn at Little Washington

Heute ist das Inn at Little Washington, das 1988 um einen Hotelbetrieb ergänzt wurde, das einzige 3-Sterne-Restaurant an der US-Ostküste, das sich nicht in New York befindet, und eine Destination für sich. 25 Gebäude gehören inzwischen zu dem Komplex, darunter ein Café mit Bäckerei, ein Einrichtungsgeschäft und Wohnungen für die inzwischen 250 Angestellten. Ob es schwer war, hier als schwules Paar ein Restaurant zu eröffnen? „Das kann man sich nicht vorstellen“, so O’Connell. „Die Leute waren Fremden gegenüber sehr skeptisch und wir waren für die so etwas wie Marsmenschen. Es war eine Herausforderung.“ Als Wendepunkt erwähnt O’Connel den Kauf einer abgebrannten Taverne, die im Zentrum des Städtchens stand und die er mit großem Aufwand und viel Geld restaurierte und in den Zustand von 1740 brachte. „Den Leuten zufolge hätte jeder normale Mensch das Ding abgerissen und etwas Neues gebaut. Als sie das Ergebnis sahen, fingen sie an, ihre Einstellungen gegenüber uns zu ändern.“ Stück für Stück verwandelte sich das gerade mal hundert Einwohner zählende Little Washington in ein kleines Paradies, in dem dank des wirtschaftlichen Erfolgs jeder profitierte. Heute finden sich in der Region zahlreiche Restaurants, Weingüter und Bed & Breakfasts, die sich mit dem Qualitätsanspruch von Chef Patrick messen müssen. Auch die LGBT-Community hat die Vorteile des Landlebens unweit der Metropole D.C. für sich entdeckt. „Wir haben sicher 150 von uns in der Region und wir scherzen immer wieder, einmal eine Parade zu machen“, lacht O’Connell. „Neulich hat ein schwules Paar ein altes Haus gekauft und der Stadtrat war begeistert und hat versprochen, alle nötigen Genehmigungen so schnell wie möglich zu besorgen. Wir sind hier inzwischen schockierend liberal.“

Foto: Dirk Baumgartl

Eigene Welt

Die Gegend rund um Little Washington ist jedoch nicht nur ein Reiseziel für Gourmets. Die Blue Ridge Mountains mit dem 800 Quadratkilometer großen Shenandoah-Nationalpark, dessen Skyline Drive wunderbare Panoramablicke auf Berge und Wälder eröffnet, liegt nur eine knappe Stunde entfernt. „Die Berge um uns herum geben ein Gefühl von Sicherheit, die Wälder, die Farben der Natur, das Licht – ich bin viel in der Welt herumgekommen, aber für mich ist das eine der schönsten Regionen der Welt“, schwärmt Chef Patrick. Von seinem Inn at Little Washington schlägt er den Bogen zu dem bei Charlottesville gelegenen Landsitz von Thomas Jefferson, dem Hauptverfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und drittem Präsidenten der USA. „In Monticello schuf Jefferson sich eine eigene Welt mit einem stattlichen Haus, Gärten, der Küche … – von Europa inspiriert und doch ganz typisch Virginia. So ähnlich ist das auch hier bei uns.“ Das gemeinsam mit den historischen Gebäuden der Universität von Virginia zum UNESCO-Weltkulturerbe zählende Landgut wurde ab 1768 nach Plänen Jeffersons auf seiner Plantage gebaut und gehört zu den wichtigsten Bauten aus der Gründerzeit der USA, auch dank vieler erhaltener Einrichtungsgegenstände. Ein besonderer Schwerpunkt gilt der Historie der auf der Plantage lebenden Sklaven, deren Lebensverhältnisse und Geschichten an diesem Ort intensiv aufgearbeitet werden. Der zu dem auf einem Hügel gelegenen Anwesen führende, gut drei Kilometer lange Saunders-Monticello Trail gehört zu den Wandertipps von Jason Becton. Der gelernte Koch zog 2014 mit seinem Mann und zwei Töchtern von New York nach Charlottesville. Nach einer ersten Karriere als Art Director orientierte Jason sich mit dreißig Jahren um und begann eine Ausbildung am French Culinary Institute in New York. Im Anschluss arbeitete er sieben Jahre in der Küche des Hotels Four Seasons, während sein Mann Patrick eine Karriere als Bäcker mit Schwerpunkt Brot einschlug.

Foto: Dirk Baumgartl

Progressiv

Seine Leidenschaft für französische Backkunst war auch die Motivation für das Geschäftsmodell in ihrer neuen Heimat. Das MarieBette, benannt nach ihren zwei Töchtern, arbeitet mit frischen Zutaten aus der Region und bietet neben traditionellen Backwaren auch eigene Kreationen wie etwa das hochgelobte „Pretzel Croissant“ an. Ausschlaggebend für den Umzug nach Charlottesville, das die Einwohner auch liebevoll C’ville nennen, war, Patricks Eltern und damit den Großeltern von Marian und Betty näher zu sein. „C’ville ist zudem ziemlich progressiv, wenn es um Politik oder LGBTIQ*-Rechte geht“, so der 45-jährige Jason. Zwar gibt es in der Stadt keine reine Gay-Bar, was bei einer Studentenzahl von über 20.000 ein wenig überrascht, dafür aber eine gut funktionierende Infrastruktur mit Vereinen, Kirchengemeinden und einem Pride, der hier seit 2012 stattfindet. „Ein schwules Paar zu sein, war von Anfang an Teil unserer Identität als Geschäftsleute“, so Jason. Dem Erfolg hat es jedenfalls nicht geschadet. Bereits 2018 konnten sie eine Dependance in Zentrum der Stadt eröffnen. Während die Stadt mit ihrer hübschen Fußgängerzone, dem Kunstpark „IX“ und exzellenten Restaurants wie dem Fleurie punktet, hat sich die Region drumherum als Destination für Weinliebhaber etabliert. Weingüter wie die Merrie Mill Farm & Vineyard ist eines von etwa vierzig, die zum Monticello Wine Trail gehören und neben Verkostungen auch Events mit Musik oder Picknicks anbieten.

Foto: Dirk Baumgartl

Käsemachen als Kunst

Zum Picknick mit Wein sollte ein gutes Stück Käse eigentlich nicht fehlen. Für eine ganz besondere Variante haben sich Mike Koch und Pablo Solanet entschieden. Unter der Marke Firefly Farms produziert das amerikanisch-argentinische Paar im äußersten Norden Marylands Ziegenkäse der Spitzenklasse. Über 130 Preise haben die Käse mit Namen wie „Merry Goat Round“, „Spruce Reserve“ oder „Mountain Top“ eingesammelt, darunter den World Cheese Award 2019. „Als wir hier 2002 unser Geschäft eröffneten, gab es in den Mittelatlantik-Staaten der USA kaum Käsereien. Wir verstehen das Käsemachen als Kunst“, so Mike, der seit 2019 auch Mitglied im Direktorium der American Cheese Society ist. „Unser Erfolg begann von Anfang an“, ergänzt Pablo. Ihre Milch beziehen die beiden von Bauern der Amischen aus dem benachbarten Pennsylvania. Die von der modernen Welt abgeschottete Glaubensgemeinschaft mit strengen Regeln und einer traditionellen Vorstellung von Geschlechterrollen sieht ihre Geschäftsbeziehung zu dem schwulen Paar offensichtlich gelassen. „Wir haben uns von Anfang an willkommen gefühlt, und die Amischen sind völlig frei von Vorurteilen“, so Mike.

Foto: Fire Fly Farms

Neben der Tatsache, dass Mikes Eltern in der Nähe des Deep Creek Lake ein Ferienhaus hatten, war auch die progressive LGBTIQ*-Gesetzgebung von Maryland ausschlaggebend für den Umzug aus Washington, D.C. Für den gelernten Koch Pablo, dessen Großeltern in Argentinien eine Farm besaßen, erfüllte sich mit dem Kauf eines eigenen Bauernhofs, den sie sich mit sechs Kühen und zwölf Hühnern teilen, hier ein Traum. Wer sich von der Hauptstadt zum Firmensitz im Städtchen Accident aufmacht, kann dies über die Historic National Road tun und auf dem Weg Stopps in dem für seine historische Altstadt bekannten Ort Frederick, in Cumberland oder dem Casselman River Bridge State Park einlegen. Vor allem in Frederick lohnt sich ein Spaziergang entlang der Hauptstraße und ein Besuch des von Lesben betriebenen Cafés Glory Doughnuts. Aber auch der ganz in der Nähe von Accident gelegene Shop Schoolhouse Earth, der dem schwulen Exzentriker Stephen Rodeheaver gehört, ist mit seinem mehr als kuriosen Inventar einen Halt wert. Und wer es nicht bis zu den Firefly Farms schaffen sollte, findet deren Käse auch in D.C.: Auf dem Bauernmarkt am Dupont Circle sind die Produkte ebenso vertreten wie in den Läden von Whole Foods, in ausgewählten Restaurants und in der Polaris Lounge von United Airlines am Flughafen Washington-Dulles.

INFO

www.capitalregionusa.de

ANREISE

Die seit zehn Jahren in Folge mit 100 Prozent beim LGBTQ Workplace Equality Index der Human Rights Campaign Foundation ausgezeichnete Fluggesellschaft United Airlines fliegt zweimal täglich von Frankfurt, einmal täglich von München und ab Mai auch täglich von Berlin nonstop nach Washington-Dulles. Zur Auswahl stehen Plätze in der Economy, Premium Plus und dem Aushängeschild der Airline, der United Polaris Class. www.united.com

Foto: United Airlines

ESSEN & TRINKEN

Nicht nur zum Frühstück schmecken die Tartlets, Kuchen und Croissants von MarieBette einfach hervorragend. An insgesamt zwei Locations in Charlottesville begeistern Jason und Patrick ihre Gäste. Das zur Bäckerei gehörende Restaurant im Stadtteil Rose Hill, in dem auch Abendessen serviert wird, war zu Redaktionsschluss aufgrund der Pandemie noch geschlossen. www.mariebette.com

Als eine Alternative zu seinem 3-Sterne-Restaurant Inn at Little Washington hat Chef Patrick sein Patty O’s Café & Bakery eröffnet. Neben Gebäck bietet das Restaurant einfache klassische Gerichte der amerikanischen Küche, die Chef Patrick aus seiner Kindheit kannte. Einige Vorspeisen wie das Thunfischtatar mit Yuzu-Sorbet stehen zum Teil auch im „großen“ Restaurant auf der Karte. www.pattyoscafe.com

Schon mal den weltbesten Ziegenkäse gekostet? Wenn nicht, dann auf in den Norden von Maryland zu der vom schwulen Paar Mike und Pablo gegründeten FireFly Farms. In ihrem Feinkostladen gibt es neben Käse auch Wurst, Wein, Honig und viele andere Produkte aus der Region. www.fireflyfarms.com

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