Chile: Höchste Gefühle

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Foto: Helge Bendl

Mit den Vulkanen der Anden und der kargen Atacamawüste bietet Chile die wohl wildesten Landschaften Lateinamerikas. Spannende Reiseziele sind aber auch die Metropole Santiago de Chile und gleich um die Ecke Valparaíso, ein regenbogenbuntes Paradies für Künstler und Hipster. Zwischen Bergen und Meer trifft man auf Superstars am Herd und die sympathischen Akteure einer netten schwulen Szene.

Es gibt Träume, die eines Tages in Erfüllung gehen. Aber es gibt auch Dinge, die man erst erleben muss, um später noch lange von ihnen träumen zu dürfen. So wie jetzt und hier dieser Sonnenaufgang mitten in der Einsamkeit der Anden, unweit des Städtchens San Pedro de Atacama im Norden von Chile. Zaghaft schickt die Sonne ihre ersten Strahlen über den schwarzen Sand. Sie wärmt unsere Gesichter, vergoldet das vereinzelt in Büscheln wachsende Gras und erleuchtet auch die große Weite der menschenleeren Landschaft. Zu sehen ist nun ein majestätisch schönes Gemälde aus kristallklar, reinen Farben: oben das Ultramarinblau des Himmels, darunter ein alles spiegelnder Salzsee, am Horizont die verschneiten Wolkenkratzer der Berge mit ihren glänzenden Zuckergussspitzen.

Lácar, Licancabur und Llullaillaco heißen die längst erloschenen Vulkane in der Ferne. Ihre Namen klingen nach alten Zaubersprüchen der Inkas, die hier einst in höchste Höhen aufstiegen, um den zürnenden Göttern zu opfern und sie milde zu stimmen. Auch auf den Miscanti kletterten sie hinauf, „nur“ 5.622 Meter hoch und damit im Vergleich zu seinen Cousins der Andenkette ein Zwerg. Dafür ist der Berg aber per Schotterpiste für Besucher erreichbar und eines jener Fotomotive, mit denen man die Daheimgebliebenen ziemlich schnell ziemlich neidisch macht.

Wir wollen noch weiter, zu spuckenden Geysiren und Lagunen voller Flamingos. Und halten doch an: Zeit für immerhin einige Minuten des Bewunderns sollte man in den Anden immer haben. Der Motor des Geländewagens verstummt, Türen schließen mit einem dumpfen Plopp, Gelenke knacken, trockene Erde knirscht. Dann bläst nur noch der Wind. Denn gestaunt wird still, weil Atemluft kostbar ist auf über 4.000 Metern Höhe. Und weil angesichts des Panoramas ohnehin die Worte fehlen.

Die Anden sind ein geologisches Ausrufezeichen: Quer durch Lateinamerika zieht sich die mit 7.500 Kilometern längste Gebirgskette der Welt. Im Westen der Berge schließt sich die Atacamawüste an, mit dem „Tal des Mondes“ und Geisterstädten aus der Zeit des Salpeteranbaus. Auf der anderen Seite der Berge begeistert Argentinien und vor allem dessen Hauptstadt Buenos Aires mit spektakulärem Nachtleben Besucher aus aller Welt.

Foto: Helge Bendl

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Doch Santiago de Chile hat in den letzten Jahren aufgeholt. Zwei Stunden dauert der Flug von Calama in der Atacamawüste in den Großstadtdschungel. Die chilenische Hauptstadt liegt am Fuß der Anden, was für tolle Ausblicke vom Hügel Cerro San Cristóbal sorgt, oft aber leider auch für dicke Luft, die sich vor den Hängen staut. Am Fuß des Cerro reihen sich im pulsierenden Regenbogenkiez Bellavista rund um die Calle Bombero Núñez die schwulen Treffpunkte aneinander. Da gibt es die Station Restobar und die 105 Bar, gut für Snacks und Drinks. Zu Drag-Shows geht man ins Dionisio oder ins Farinelli – und muss dafür gar nicht mal gut Spanisch können. Weiter geht’s zum Feiern in die Clubs Burdel und Instinto. Events steigen oft auch in den Discos Bunker und Femme oder außerhalb der Stadt im Divino. Wem das alles zu jung ist, kann um die Ecke in der Fausto Bar vorbeischauen: Die gibt es seit 1979, und sie wirkt mit ihren Holztäfelungen wie ein Gentlemen’s Club. Das Publikum ist älter – und doch nicht ruhiger, besonders wenn der DJ die Musik der 80er auflegt.

„Wer denkt, die Mehrheit der Chilenen sei sehr katholisch und sehr konservativ, liegt falsch“, meint Alberto Roa von der LGBTI-Organisation Movilh. Das Image des Landes stamme noch aus der Zeit der Diktatur des homophoben Generals Augusto Pinochet, der das Land von 1973 bis 1990 unter Kontrolle hatte. „Wir haben Movilh nach der Rückkehr zur Demokratie gegründet. Inzwischen sind die Chilenen sogar offener als die Brasilianer und zeigen oft Zivilcourage“, sagt Alberto Roa voller Stolz.

In Sachen Schwulenrechte hinkten Chiles Regierungen anderen Staaten auf dem südamerikanischen Kontinent lange hinterher. Doch auch hier gibt es inzwischen einen Antidiskriminierungsparagraphen und eine Art eingetragener Lebenspartnerschaft. Im Juni kündigte Präsidentin Michelle Bachelet gar einen Vorstoß für die Homo-Ehe an. Und Movilh organisiert nun nicht mehr nur den großen Pride im Juni, ein queeres Kinofestival im Oktober und im November zum Elektro-Festival Open Mind Fest eine bunte Parade. Alberto Roa und sein Team arbeiten jetzt sogar für den Staat. In einem Bilderbuch, das sie zur Sensibilisierung von Vorschulkindern entwickelt haben, hat der kleine Nicolás nicht einen, sondern zwei Väter.

Wer durch die Straßen von Santiago schlendert, wird Zeuge noch einer weiteren kleinen Revolution. Tomaten, Kartoffeln, Chilis, Kakao, Mais: Ohne jene Lebensmittel, die Kolumbus und seine Nachfolger in Südamerika für den Rest der Welt entdeckten, gäbe es viele Gerichte in den Küchen der Welt überhaupt nicht – weder die „typischen“ Soßen Italiens noch die scharfen Suppen Thailands. Nun verändert der Kontinent die kulinarische Welt ein zweites Mal: Südamerikas Köche sind die neuen Superstars am Herd, weil sie radikal moderne Gerichte mit lokalen Zutaten entwickeln.

Rodolfo Guzmán von Santiagos gefeiertem Gourmetrestaurant Boragó sucht an der 4.000 Kilometer langen Küste und in den Bergen, in der Atacamawüste und im feuchten Nebelwald nach seltenen Zutaten für seine kunstvoll arrangierten Menüs. Ob Meereserdbeeren oder Cochayuyo-Algen, patagonisches Lamm in Aschekruste oder gar Ameisen – ein wildes Aromenspektakel ist garantiert. Auch der deutschstämmige Koch Kurt Schmidt vom 99 Restaurante sorgt für frischen Wind in der Küche, in seinem Fall auch zu bezahlbaren Preisen. Selbst an der Straßenecke gibt man sich nun Mühe, die riesigen Sánguches, wie man hier Sandwiches nennt, neu zu erfinden. Dazu gibt es nicht nur chilenischen Wein, sondern auch den aus Traubenmost destillierten Pisco in allerlei Variationen.

Foto: Helge Bendl

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Foto: Helge Bendl

Wer vom Großstadtgetümmel eine Auszeit braucht, fährt an die Küste: In den Badeort Viña del Mar oder in die benachbarte Hafenstadt Valparaíso sind es gerade einmal knapp hundert Kilometer. Dort empfangen einen kunterbunt angestrichene Häuser Valparaíso war bis zum Bau des Panamakanals Südamerikas wichtigster Hafen am Pazifik. Nach der erfolgreichen Umrundung von Kap Hoorn schlugen Handelsschiffe hier ihre Waren um. Möglichst nah am Wasser lagerten die Güter. Wer es sich leisten konnte, wohnte aber auf den steil aufragenden Hügeln – diese Viertel boten bessere Luft und den Blick aufs Meer. Weil das Treppensteigen auf Dauer zu beschwerlich war, suchte man nach einer technischen Lösung, um den Höhenunterschied zu überwinden. Ascensores, also Aufzüge, nennt man die historischen Verkehrsmittel in Chile, auch wenn es sich eigentlich um Standseilbahnen handelt. Früher gab es über 30 davon, heute existieren noch 16. Die Gefährte bringen inzwischen auch Hipster aus aller Welt auf die Hügel – auf den Cerros zu wohnen, ist nach Jahren des Niedergangs wieder schick geworden.

Valparaísos historischer Stadtkern ist mittlerweile Unesco-Weltkulturerbe – und mit ihm auch die Standseilbahnen. Sie klappern und knarzen, scheppern und schleifen. In den wackelnden Kabinen sitzen ältere Passagiere auf Bänken, daneben stehen die Leute dicht gedrängt. Sonderlich komfortabel ist das nicht. Doch die Ascensores funktionieren, und das seit mehr als hundert Jahren. Achtzig Sekunden dauert deren schönste Fahrt: 175 Meter Schienen führen die 48 Höhenmeter vom Hafen zum Hügel Artillería hinauf. Der Blick von dort: ein Traum. Wie so oft in Chile.

*Text: Helge Bendl

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