Coming-out mit 90 Jahren – und leider ohne Happy End

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Eine der inspirierendsten Geschichten des Jahres: Kenneth Felts aus den USA traut sich im stolzen Alter von 90 Jahren endlich, zu bekennen: Ich bin schwul. Er vergeudet keine Zeit mehr, kauft sich Regenbogenpullover und Regenbogenfahne und nimmt sogar mit Rollator an einem queeren Spendenlauf teil. Menschen auf der ganzen Welt nehmen Anteil an seiner Geschichte, helfen ihm in sozialen Medien sogar, seine große Liebe wiederzufinden – nach über 50 Jahren. Sehr traurig: Für die beiden gibt es leider kein Happy End. 

Foto: Facebook / Kenneth Felts

Kenneth Felts aus Arvada im US-Bundesstaat Colorado hatte ein bewegtes Leben. Letzten Monat inspirierte er viele Menschen auf der ganzen Welt, als seine Lebensgeschichte viral ging. Mit 90 Jahren outete er sich als schwul – und bewies damit, dass es nie zu spät ist, ehrlich zu sich selbst zu sein und zu lernen, sich so zu akzeptieren wie man ist.

Mit der Zeitung Denver Post sprach Felts über sein Coming-out. Er habe nie geplant, sich zu outen, so der 90-Jährige. Stattdessen wollte er sein Geheimnis mit ins Grab nehmen. Doch der Lockdown im Rahmen der Corona-Pandemie habe ihm viel Zeit zum Nachdenken gegeben. Außerdem schrieb Felts in dieser Zeit an seiner Autobiographie. Viele fast verdrängte Erinnerungen kamen hoch – an seine große Liebe, Phillip.

„In all den Beziehungen, die ich seit Phillip hatte, hat sich nichts mit ihm messen lassen, und ich gehe nicht davon aus, dass irgendetwas das jemals wird."

Als der 90-Jährige mit seiner Tochter Rebecca Mayes sprach, rutschte es ihm schließlich heraus: Er verriet ihr, dass er es bereue, Phillip verlassen zu haben. Es war das erste Mal, dass er ihr gegenüber von seinem anderen Leben sprach, dem Leben, das er führte, bevor sie geboren wurde. Rebecca ist seine einzige Tochter, aus einer Ehe, die in Scheidung endete. Als er ihr von Phillip erzählte und sich outete, tröstete und unterstützte ihn – genau wie er es zwanzig Jahre zuvor getan hatte, als Rebecca sich ihm gegenüber als lesbisch bekannte.

Nach dem Gespräch mit seiner Tochter nahm Felts allen Mut zusammen: Er outete sich bei Freunden und Familienmitgliedern via Email und Facebook-Posting. Gegenüber der Denver Post gestand er, sehr große Angst vor den Reaktionen gehabt zu haben. Doch er wurde überrascht: Kaum hatte er auf „senden“ gedrückt, regnete es positive Antworten, aufmunternde Kommentare bei Facebook und viele, viele Glückwünsche.

„Ich war mein ganzes Leben lang im Schrank - tief im Schrank, hinter Reihen und Reihen von Kleidung. Ich war ganz da hinten. Als ich die Tür vorne öffnete, hatte ich große Angst davor, was die Leute sagen würden. Ich war sehr beunruhigt, weil ich diese Menschen brauchte, und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, sie zu verlieren, nur weil ich beschlossen hatte, endlich zu sein, wer ich wirklich war.“

Bestärkt von der Liebe und Unterstützung seiner Familie holte Felts in den folgenden Wochen vieles auf: Er kaufte sich einen farbenfrohen Regenbogen-Pullover, den er heute am liebsten trägt, sowie eine Regenbogenfahne, die nun hinter ihm an der Wand hängt – damit sie immer zu sehen ist, wenn er an den virtuellen Meetings seiner lokalen LGBTIQ*-Gruppe teilnimmt. Außerdem sammelte er bei einem Solo-Spendenlauf knapp 1000€ an Spenden für die queere Community. Seine Tochter Rebecca Mayes ist stolz auf ihn:

„Er ist einfach so mutig, und er merkt nicht einmal, dass er es ist, aber es ist außergewöhnlich“

Auch ihre Ehefrau Tracie Mayes bewundert ihren Schwiegervater:

„Er scheint die verlorene Zeit aufzuholen und ist mit ganzem Herzen dabei, was fantastisch ist“


Zwei Jahre zu spät für ein Happy End

Doch was ist mit Felts großer Liebe, Phillip? Der Mann, an den der 90-Jährige Frischgeoutete auch nach 50 Jahren noch immer wehmütig denken muss? Wie Felts erzählte, habe er bereits früher versucht, ihn zu finden – aber erfolglos. Als die Geschichte schließlich viral ging, meldete sich eine Frau und bot an, sie könne ihm helfen, Philipp zu finden.

Wir reisen 63 Jahre in die Vergangenheit: 1957 lernten die beiden Männer sich kennen. Da fing Felts nämlich an, bei der Kreditgesellschaft zu arbeiten, bei der auch Phillip angestellt war. Es war der Beginn einer großen Liebe. Gegenüber dem Magazin Newsweek erzählt er, dass Phillip ihn eingearbeitet habe und die beiden sich sofort zueinander hingezogen fühlten. Obwohl Felts es nicht wagte, öffentlich zu seiner Homosexualität zu stehen, hielten die beiden an ihrer Liebe fest – und zogen schließlich sogar zusammen.

Die 1960er Jahre waren eine andere Zeit. Felts schaffte es schließlich nicht mehr, sich zu zerteilen – zwischen seiner Liebe zu Phillipp, der Treue zu seiner Religion und dem Leben in einer Gesellschaft, die ihm sagte: Was du tust und fühlst ist eine Sünde, eine Krankheit. Als sie eines Tages gemeinsam in der Kirche waren und Felts einen Chorauftritt ansah, bei dem sein Freund teilnahm, hatte er eine Erleuchtung, wie er erzählt:

„Als ich dort saß, fiel es mir einfach auf – ich war an diesem heiligen Ort, der Homosexualität verurteilt, und ich habe etwas mit Phillip gemacht, das wirklich wunderbar war, aber 'falsch'. Die Gesellschaft und meine Religion sagten, ich sollte heterosexuell sein. Ich hatte diesen Konflikt zwischen der Kirche und meiner Liebe zu Phillip.“

Foto: Facebook / Kenneth Felts

Felts kündigte seinen Job und verließ Phillip. Die Trennung bezeichnet er heute als den größten Fehler seines Lebens. Obwohl sein Freund ihm noch viele Male schrieb, reagierte der heute 90-Jährige nicht mehr darauf. Die letzte Nachricht von Phillip lautete schließlich, Monate nach der Trennung: 'Wenn du nicht antwortest, werde ich dich nicht wieder stören.' Felts antwortete nicht – und hörte nie wieder von ihm. 

Inzwischen weiß Kenneth Felts: Phillip starb vor zwei Jahren. Die Frau, die sich auf seinen Post hin meldete, fand dies heraus. Der mutige Frischgeoutete wird sich von seiner großen Liebe also nicht mehr verabschieden können. Für Felts eine sehr schwierige Nachricht. Es sei „schrecklich frustrierend" und „wirklich schmerzhaft", so der 90-Jährige. Aber Familie und Freunde unterstützen ihn – genau so wie Menschen auf der ganzen Welt, die in sozialen Medien Anteil an der Liebes- und Lebensgeschichte des 90-Jährigen nehmen. Felts lässt die ganze Welt an seinen Gefühlen teilhaben:

„Ich habe das Gefühl, dass ich die besten Jahre seiner Jugend mit ihm geteilt habe, und er hat meine sicherlich unvergesslich gemacht, und ich werde mich immer daran erinnern und das schätzen. Ich habe ihn über die Jahre so sehr in meinem Herzen geliebt und jetzt ist er weg."

In dem Nachruf erzählt Felts, dass er von Phillips Nichte erfuhr, dass seine große Liebe ein erfülltes und glückliches Leben gelebt habe. Sein langjähriger Partner sei einige Jahre vor ihm gestorben.

„Für mich ist er vor weniger als zwei Wochen gestorben. Ich habe online einen Nachruf auf ihn veröffentlicht, und die Leute haben mich mit überwältigender Anteilnahme unterstützt und gesagt, wie leid es ihnen tut, dass ich ihn nicht gesehen habe. Aber es tut immer noch weh."

Gibt er der Liebe denn noch eine Chance? Ja, sagt Felts. Allerdings sei er mehr an den ruhigen Aspekten einer Beziehung interessiert, so wie Nähe, Zärtlichkeit und Händchenhalten. In einem Post schreibt er:

„Ich hätte gerne einen Freund. Kameradschaft und jemand der da ist, wenn die Tage länger werden."

Wer weiß? Vielleicht kann ihm die Facebook-Gemeinschaft ja auch dabei noch einmal helfen. Wir wünschen es ihm von ganzem Herzen. 

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