§175: DIE TEILWEISE TÖDLICHEN FOLGEN

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Antidiskriminierungsstelle und LSVD: Rehabilitation jetzt! Ein Gespräch mit Georg Härpfer über eine für manche tödliche Rechtsprechung, Verurteilungen in der jungen Bundesrepublik und den Verdacht, ein 175er zu sein. Die Fragen stellte Bruder Franziskus (Rogatekloster.de).

Georg Härpfer studierte Jura an der Ludwig-Maximilian-Universität München und Verwaltungsrecht an der bayerischen Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in München sowie Kunstgeschichte an der FU Berlin. Er ist Diplom-Verwaltungswirt. Er engagiert sich in der AG Lesben und Schwule in der SPD (QueerSozis/Schwusos) im Landesvorstand Berlin. Seit Anfang Juli ist er zudem Vorstandsmitglied des neu gegründeten Bundesinteressenverbandes schwuler Senioren (BISS).

DER PARAGRAF 175 IM STRAFGESETZBUCH (STGB) TAUCHTE ZUM ERSTEN MAL 1871 IN DER DEUTSCHEN RECHTSPRECHUNG AUF. DER PARAGRAF EXISTIERTE FAST 123 JAHRE MIT WEITREICHENDEN UND TEILWEISE TÖDLICHEN FOLGEN FÜR SCHWULE MÄNNER. AM 10. MÄRZ 1994 HAT DER DEUTSCHE BUNDESTAG IHN AUS DEM STRAFGESETZBUCH GESTRICHEN. WARUM IST ES FÜR SIE DAMIT NICHT ERLEDIGT?

Mit der Streichung des Paragrafen 175 StGB im Jahre 1994 aus dem Strafgesetzbuch ist keine Rehabilitation und Entschädigung der vielen tausend Männer erfolgt, die vor allem in der Zeit von 1949 bis 1969 aufgrund dieses Paragrafen verurteilt worden sind.

WIE VIELE MÄNNER WAREN VON EINER POLIZEILICHEN UND JURISTISCHEN VERFOLGUNG IN DER DDR UND BUNDESREPUBLIK DURCH DEN PARAGRAFEN BETROFFEN UND MIT WELCHEN FOLGEN?

Die genaue Zahl ist nicht bekannt. Man spricht von circa 100.000 Ermittlungsverfahren und circa 50.000 Verurteilungen in der BRD. Aus der DDR sind 1.300 Verurteilungen bis 1959 dokumentiert. Die Freiheitsstrafen konnten auf bis zu fünf Jahre festgelegt werden, in den meisten Verurteilungen wurde das Strafmaß auf zwei Jahre Freiheitsentzug festgelegt. Die junge Bundesrepublik hat die nationalsozialistische Verfolgung der homosexuellen Männer bruchlos fortgesetzt. Unglaublich ist die Tatsache, dass homosexuelle Männer, die die Konzentrationslager überlebt hatten, zur Fortsetzung der Strafverbüßung wieder eingesperrt wurden.

Die Strafdrohung des Paragrafen 175 StGB entfaltete außer einem förmlichen Prozess eine vielfache Wirkung in der Form, dass unter anderem der Verdacht, ein 175er zu sein, zum Verlust der bürgerlichen Existenz führen konnte, dass der Verlust des Arbeitsplatzes drohte, die Wohnung gekündigt werden konnte, man zum Freiwild für Erpresser werden konnte, die Partnerfindung extrem erschwert, wenn nicht unmöglich war und schließlich das Risiko auf Suizid erhöht war.

WARUM WURDEN DIE VERURTEILTEN NACH 1945 NIEMALS REHABILITIERT? WARUM SIND DIESE URTEILE IMMER NOCH GÜLTIG?

Die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP lehnten die Forderung, der Gesetzgeber solle die nach 1945 ergangenen strafrechtlichen Verurteilungen wegen einvernehmlicher sexueller Handlungen zwischen Männern aufheben, mit der Begründung ab, dass die Verurteilungen nach den Paragrafen 175 und 175 a StGB vom Bundesverfassungsgericht mit dem Urteil aus dem Jahre 1957 gebilligt worden seien. Der Gesetzgeber dürfe keine rechtskräftigen Urteile aufheben, das verstoße gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung, Artikel 20 und 92 des Grundgesetzes.

WELCHE INITIATIVEN GIBT ES, UM EINE REHABILITATION DER NACH PARAGRAF 175 VERURTEILTEN ZU ERREICHEN?

Die Bundestagsfraktionen von Die Linke und Bündnis90/Die Grünen haben mit mehreren Anträgen die Rehabilitierung und Entschädigung der Männer gefordert, die nach 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilt worden sind. Der Berliner Senat positionierte sich mit zwei Beschlüssen im April 2012: Über eine Bundesratsinitiative wurde die Bundesregierung aufgefordert, Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung der nach Paragraf 175 StGB verurteilten homosexuellen Männer zu ergreifen. Der Senat hat zudem ein Konzept zur berlinbezogenen Erforschung und Dokumentation der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer und der Diskriminierung von Lesben, Schwulen und trans- und intergeschlechtlichen Menschen in der frühen Bundesrepublik und der DDR verabschiedet. Im Jahre 2013 startete die Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen mit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld und weiteren Kooperationspartnern die Arbeit an dem Zeitzeugenprojekt Archiv der anderen Erinnerungen.

Anlässlich eines Gutachtens der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zur Rehabilitierung und Entschädigung der nach 1949 aufgrund von § 175 Strafgesetzbuch (StGB) verurteilten Männer erklärt Axel Hochrein, Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD) am 11. Mai 2016: 

Der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) begrüßt das Gutachten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Damit steht fest: Der Gesetzgeber kann nicht nur, vielmehr muss er die nach 1949 aufgrund von § 175 StGB verurteilten Männer rehabilitieren. Das Gutachten macht deutlich: Die Bundesregierung kann sich nicht länger hinter Scheinargumenten verstecken, wonach eine Aufhebung der Urteile rechtlich nicht möglich wäre. Das Gegenteil ist Fall: Der Rechtsstaat zeigt gerade dann seine Stärke, wenn er so souverän ist, seine Fehler zu korrigieren. Bundesregierung und Bundestag stehen nun in der Pflicht, die Betroffenen schnell zu rehabilitieren. Die Beseitigung dieses Unrechts, das im Namen der Bundesrepublik Deutschland erfolgte, muss noch in dieser Legislatur-Periode geschehen. Die Zeit drängt, damit Opfer der Homosexuellenverfolgung noch die Aufhebung der Unrechtsurteile und die Wiederherstellung ihrer Würde erleben. Der LSVD fordert die gesetzliche Rehabilitierung aller nach 1949 menschenrechtswidrig wegen homosexueller Handlungen Verurteilten, eine individuelle Entschädigung für das erlittene Unrecht sowie einen kollektiven Ausgleich. Ein dementsprechendes Positionspapier hat der LSVD gemeinsam mit der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS) und der Deutschen AIDS-Hilfe verabschiedet.

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