Japans queere Jugend: Fast die Hälfte kämpft gegen Suizid

Scham, Angst, Versteckspiel: So zermürbend ist Minoritätenstress. Mit dem Wort bezeichnet die Wissenschaft zusammenfassend die Auswirkungen von Faktoren, die durch eine Mehrheitsgesellschaft bewusst oder unbewusst das Wohlbefinden Angehöriger von Minderheiten beeinflussen.

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In der letzten Woche bewegte eine Verzweiflungstat zweier junger Schwuler in Armenien (männer* berichtete). Sie war wohl Ergebnis der homophoben Grundstimmung der dortigen Gesellschaft. Eine wissenschaftliche Umfrage kommt diesbezüglich zu erschreckenden Zahlen: Die Erhebung unter japanischen LGBTIQ*-Teenagern ergab, dass 48 Prozent der queeren Jugendlichen in Japan im vergangenen Jahr daran dachte, sich das Leben zu nehmen; 14 Prozent haben einen Suizidversuch unternommen.

Foto: cottonbro / pexels.com / CC0


-> In diesem Artikel wird über Suizid berichtet. Wer mit diesem Thema lieber nicht konfrontiert werden will oder kann, sollte nicht weiterlesen. Wenn du selbst Suizidgedanken hast, in einer schweren emotionalen oder psychischen Krise steckst, steht dir die Krisenhilfe der Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800 1110111 und 0800 1110222 jederzeit zur Verfügung. 


Zahlen weit über dem Landesdurchschnitt

Die in Tokio ansässige gemeinnützige Organisation ReBit führte vom 4. bis 30. September eine Online-Umfrage unter LGBTIQ* im Alter zwischen 12 und 34 Jahren durch und analysierte die Antworten von 2.623 Personen. Die Ergebnisse zeigten, dass 40,4 Prozent aller Befragten im vergangenen Jahr an Suizid dachten. Bei den unter 20-Jährigen waren es im gleichen Zeitraum 48,1 Prozent der Befragten, die daran dachten, sich das Leben zu nehmen. 14 Prozent haben tatsächlich einen Selbstmordversuch unternommen, 38,1 Prozent verletzten sich selbst. 

Quelle: twitter.com/Re__Bit

Damit liegt das Selbstmordrisiko von LGBTIQ*-Jugendlichen in Japan weit über dem nationalen Durchschnitt. Laut The Japan Times verglich ReBit die Umfrageergebnisse mit anderen Befragungen unter Einwohner*innen in ganz Japan, etwa von der Nippon Foundation aus dem Jahr 2021, wonach 12,7 Prozent der Menschen zwischen 10 und 19 Jahren im vergangenen Jahr an Selbstmord gedacht und 3,5 Prozent einen Suizidversuch durchführten.

Minoritätenstress zermürbt

Einige der Befragten haben ihre Erfahrungen und Probleme genauer beschrieben. Ein 31-jähriger Mann schrieb: „Ich entwickelte eine psychische Störung, als ich in der High School war, nachdem ich täglich gegen die Angst gekämpft hatte, abfällige Worte (in Bezug auf schwule Menschen) gegen mich geschleudert zu bekommen, und ich war erschöpft. Ich hatte keine andere Wahl, als die High School zu verlassen.“ Ein 18-jähriger schrieb: „Jedes Mal, wenn meine Eltern mich fragten: ‚Du bist nicht auf dieser Seite, oder?‘, litt ich sehr darunter, dass ich lachte und sie anlog, indem ich sagte: ‚Das ist unmöglich.‘ Auch zu Hause kann ich nicht ich selbst sein.“

Forschende gehen schon lange davon aus, dass Diskriminierung und Minoritätenstress eine höhere Rate an Suizidgedanken und -versuchen mit sich bringt. Studien, die auf dem Minderheitenstressmodell basieren, zeigen, dass sowohl externe Minderheitenstressoren (z. B. Viktimisierung durch Hassverbrechen, Diskriminierung, Belästigung) als auch interne Minderheitenprozesse (z. B. verinnerlichte Homophobie, die Erwartung von Ablehnung, Verheimlichung der sexuellen Orientierung) zu größerem psychischen Stress, schlechterer psychischer Gesundheit, höherem Risiko für Substanzkonsum, Depressionen und Suizidgedanken bei Personen, die sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten angehören, führen können. Ein 2021 in der Zeitschrift Psychology of Sexual Orientation and Gender Diversity veröffentlichter Artikel untersuchte den Zusammenhang zwischen externen Stressoren für Minderheiten, internalisierter Homophobie und Selbstmordgedanken.

Die Forscher*innen vermuten, dass Diskriminierung LGBTIQ*-Personen dazu veranlasst, die Gemeinschaft mit Gleichaltrigen zu suchen, um sich vor den Auswirkungen von Homophobie auf die psychische Gesundheit zu schützen. Die Verbundenheit mit der LGBTIQ*-Community kann bei der Milderung der Auswirkungen dieser Stressoren helfen, vermuten die Forscher*innen, indem sie die eigene Resilienz stärkt und das psychische Wohlbefinden erhöht.


➡️ Was Forscher*innen zur Abmilderung von Minoritätenstress fordern: 

Erschreckende Zahlen: So suizidgefährdet sind junge Queers


Selbsthilfe stärken, Gesellschaft verändern

In Japan fehlt es aber grundsätzlich am Verständnis für die Probleme der LGBTIQ*-Community. Hilfsangebote fehlen, vielfach werden die Menschen alleingelassen – mit den entsprechenden Folgen. Fast 40 Prozent der queeren Menschen in Japan wurden schon einmal sexuell belästigt oder angegriffen. Rund 60 Prozent der LGBTIQ*-Bevölkerung wurden in der Schule Opfer von Mobbing, etwa die Hälfte aller Queers berichtet von Schwierigkeiten am Arbeitsplatz (männer* berichtete). 

Foto: jcomp / freepik.com / CC0

In der ReBit-Umfrage gaben 91,6 Prozent der Befragten an, dass sie mit ihren Eltern oder Erziehungsberechtigten nicht über ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität sprechen können. Unter den Schüler*innen gaben 93,6 Prozent an, mit ihren Lehrer*innen nicht darüber sprechen zu können, was sie durchmachen.

„LGBTQ-Menschen brauchen stressfreie Orte, an denen sie über ihre Sexualität sprechen können“,

betont auch der stellvertretender Geschäftsführer von ReBit Mika Yakushi. Im Gespräch mit der Zeitung Mainichi Shimbun forderte er:

„Schulen und lokale Gemeinschaften müssen Unterstützungssysteme einrichten, die auf Probleme von LGBTQ-Schülern reagieren können.“

Dänemark und Schweden erbrachten Beweis

Auch die Weiterentwicklung der Gesellschaft kann den Druck auf Jugendlichen mindern, wie zum Beispiel Forscher*innen für Dänemark und Schweden nachwiesen. 1989 führte Dänemark als erstes Land der Welt eine zivile Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare ein, sechs Jahre später folgte Schweden.


➡️ Die Studienergebnisse aus Dänemark und Schweden:

Ehe für alle senkt Suizidrisiko Homosexueller um fast die Hälfte


Die staatliche Anerkennung von Liebe als Höhepunkt massiver Gleichstellungsbemühungen für Queers war dort mit dafür ausschlaggebend, dass das Selbstmordrisiko unter LGBTIQ* signifikant sank. Insofern senden die aktuellen Nachrichten über diesbezügliche Fortschritte, die uns aus Tokio erreichten (männer* berichtete), ein Signal der Hoffnung für Japans junge Queers.

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