Audre Lorde: Kämpferin und Poetin

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Heute ist Internationaler Frauentag, in Berlin seit 2019 gesetzlicher Feiertag, und es ist Krieg. Was also an diesem zudem ausgesprochen frühlingshaft sonnigen Tag über wen schreiben?

Erinnern an Clara Zetkin? Schließlich schlug sie am 27. August 1910 auf der Zweiten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen die Einführung eines internationalen Frauentages vor. An Hilde Radusch? Die antifaschistische Widerstandskämpferin und streitbare Politikerin für die Akzeptanz lesbischer Frauen? An Peggy Piesche, die schwarze, lesbische Feministin aus der DDR? Es gibt so viele Frauen, die es wert wären, heute porträtiert zu werden. Sie waren Wegbereiter*innen, Kämpfer*innen für Menschenrechte, Friedensaktivist*innen und manche haben ihren Aktivismus sogar mit dem Leben bezahlt (männer* berichtete).

Die Surrealität zwischen den schönen, frühlingshaften Tagen und den horrenden Bildern und Nachrichten macht es schwer Worte und Geschichten der Erinnerung aufzuschreiben. Dieser Kontrast resoniert mit dem Gedicht „This Urn Contains Earth from German Concentration Camps“ („Diese Urne enthält Erde aus deutschen Konzentrationslagern“) von Audre Lorde aus dem Jahr 1984. Lorde war zu Besuch in der NS-Gedenkstätte Plötzensee, und fasste ihre Empfindungen an jenem, ebenfalls herrlichen, Sommertag so zusammen:

Darum also hier eine kurze Vorstellung der Amerikanerin, die mehr mit Berlin und aktuellen Diskussionen zu tun hat, als vielen bekannt ist. 

Rassismus der eigenen Mutter 

„I value myself more than I value my terrors." („Ich schätze mich selbst mehr als meinen Schrecken.“)

Audrey1 Geraldine Lorde wurde in New York City als jüngste von drei Töchtern von Linda Gertrude Belmar Lorde und Fredie Byron Lorde geboren. Beide Elternteile stammten von den Grenadinen und immigrierten in die USA. Lorde war so kurzsichtig, dass sie in juristischen Sinne als blind galt. Trotzdem lernte sie im Alter von vier Jahren lesen. Die Mutter brachte ihr gleichzeitig das Schreiben bei. 

Das Verhältnis zu ihren Eltern war schon in jungen Jahren schwierig; besonders zu ihrer Mutter: Obwohl selber PoC (People of Colour), stand sie Menschen mit dunklerer Haut als ihrer eigenen – Audre eingeschlossen – und der Außenwelt im Allgemeinen zutiefst misstrauisch gegenüber. Die Erziehung zeichnete sich deshalb durch „harte Liebe“ und die strikte Einhaltung der Familienregeln aus.

Audre wuchs in Harlem während der Great Depression auf, konnte dank ihrer Begabung die Hunter College Highschool für Hochbegabte besuchen und machte dort 1951 ihren Abschluss. Während sie Hunter besuchte, veröffentlichte Lorde ihr erstes Gedicht in der Zeitschrift Seventeen, nachdem die Literaturzeitschrift ihrer Schule es als unangemessen abgelehnt hatte. Ihr Studium am Hunter College musste sie aus eigener Kraft finanzieren, mit Hilfe diverser Nebenjobs. Sie arbeitete in einer Fabrik, als Ghostwriterin, als Sozialarbeiterin, als Röntgentechnikerin, als medizinische Bürokraft und als Lehrerin für kunsthandwerkliche Arbeiten.

Lorde arbeitete nach ihrem Bachelor als Bibliothekarin, schrieb Gedichte und Prosa und wurde ein aktiver Teil der homosexuellen Subkultur im Greenwich Village. Sie engagierte sich in der Bürgerrechts- und der Frauenbewegung. Nach ihrer Brustkrebsdiagnose im Jahr 1968 konzentrieren sie sich auf ihre Karriere als Schriftstellerin, Dozentin und Aktivistin. 

Foto: Salzgeber

Vorreiterin der Intersektionalität 

„It is not our differences that divide us. It is our inability to recognize, accept, and celebrate those differences." („Es sind nicht unsere Unterschiede, die uns trennen. Es ist unsere Unfähigkeit, diese Unterschiede zu erkennen, zu akzeptieren und zu feiern.")

Ihre Schriften basieren auf der „Theorie der Differenz“, der Idee, dass die Konzentration auf Opposition zwischen Männern und Frauen zu einfach ist. Obwohl Feministinnen es für notwendig schien, die Illusion eines soliden, einheitlichen Ganzen zu präsentieren, sind Frauen selbst voller Unterteilungen. Lorde identifizierte Probleme wie Rasse, Klasse, Alter und Altersdiskriminierung, Sex und Sexualität und später in ihrem Leben chronische Krankheiten und Behinderungen. Letzteres wurde in ihren späteren Jahren immer prominenter, als sie mit Krebs lebte.

In ihrem Roman „Zami: A New Spelling of My Name“ zeigte Lorde, wie ihre vielen verschiedenen Identitäten ihr Leben prägen und welche unterschiedlichen Erfahrungen sie dadurch machte. Sie zeigt, dass die persönliche Identität in den Verbindungen der unterschiedlichen Ebenen des eigenen Lebens gefunden wird, basierend auf gelebter Erfahrung, und dass die eigene Autorität zu sprechen von dieser gelebten Erfahrung kommt, nicht nur von erlerntem Wissen. 

Sie argumentierte, dass, obwohl geschlechtsspezifische Unterschiede im Mittelpunkt stehen, es wichtig ist, dass diese anderen Unterschiede ebenfalls anerkannt und angegangen werden.  

In „Age, Race, Class, and Sex: Women Redefining Difference“ schreibt sie: 

„Sicherlich gibt es sehr reale Unterschiede zwischen uns in Bezug auf Rasse, Alter und Geschlecht. Aber es sind nicht diese Unterschiede zwischen uns, die uns trennen. Es ist vielmehr unsere Weigerung, diese Unterschiede anzuerkennen und die Verzerrungen zu untersuchen, die sich daraus ergeben, dass wir sie falsch benannt haben, und ihre Auswirkungen auf menschliches Verhalten und menschliche Erwartungen."

Diese Theorie ist heute als Intersektionalität bekannt. Audre Lorde war eine ihrer Vorreiterinnen. 

Erotik als Macht

„Caring for myself is not self-indulgence, it is self-preservation, and that is an act of political warfare.“ („Sich um mich selbst zu kümmern ist keine Zügellosigkeit, es ist Selbsterhaltung und somit ein Akt der politischen Kriegsführung.“)

In ihrem Essay „The Erotic as Power“, von 1978 und veröffentlicht in „Sister Outsider“, geht Lorde davon aus, dass die Erotik nur dann einen Ort der Macht für Frauen ist, wenn sie lernen, sie von ihrer Unterdrückung zu befreien und sie anzunehmen. Sie schlägt vor, dass die Erotik von ganzem Herzen erforscht und erfahren werden muss. Sie existiert nicht nur in Bezug auf Sexualität und das Sexuelle, sondern auch als ein Gefühl von Genuss, Liebe und Nervenkitzel, wie es bei jeder Aufgabe oder Erfahrung empfunden wird, die zufrieden stellt.

Sie weist den Glauben zurück, dass Frauen* nur durch die Unterdrückung des Erotischen und Emotionalen in unserem Leben und Bewusstsein wirklich stark sein können. Aber diese Stärke sei eine Illusion, denn sie wird im Kontext männlicher Machtmodelle geformt.

Das Leben beobachten und darüber sprechen/schreiben

„I realize that if I wait until I am no longer afraid to act, write, speak, be, I'll be sending messages on a Ouija board, cryptic complaints from the other side.“ („Mir ist klar, dass ich, wenn ich warte, bis ich keine Angst mehr habe zu handeln, zu schreiben, zu sprechen, zu sein, Nachrichten auf einem Ouija-Brett sende, kryptische Beschwerden von der anderen Seite.“)

Durch ihre das Leben genau beobachtenden und befragenden Gedichte und Essays wurde Lorde zu einer der wichtigsten Theoretikerinnen der Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre. Einer Leitfigur für Feministinnen der dritten Generation aller Hautfarben, denn sie lehrte damals neue Denkweisen, die heute den Diskurs bestimmen. 

Berlin

„If I didn’t define myself, I would be crunched into other people’s fantasies for me and eaten alive.“ („Wenn ich mich nicht definieren würde, würden mich in die Fantasien anderer Leute zerquetschen und lebendig fressen.“)

Im Sommer 1984 kam Audre Lorde zum ersten mal nach Berlin. Sie trat für ein Semester eine Gastprofessur am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der FU Berlin an. Dagmar Schultz, die dort als Dozentin tätig war, hatte ihre Berufung in die Wege geleitet. Audre Lorde beobachtete aufmerksam, dass sich in ihrem Publikum oft schwarze Deutsche einfanden. Sie sprach sie gezielt an, brachte sie zusammen und inspirierte sie zur Gründung einer afro-deutschen Bewegung, die es bis dahin nicht gegeben hatte. Sie ermutigte sie, ihre eigene Identität zu definieren und nach außen zu tragen.

Audre Lordes Einfluss auf die Schwarze Community und auch auf weiß-gelesene Menschen war sehr bedeutsam. Die Berliner Zeit beschrieb sie als eine der wichtigsten in ihrem Leben. Dagmar Schultz hielt diese Zeit von Audre Lordes Leben in Berlin mit der Dokumentation „Audre Lorde – The Berlin Years 1984 to 1992“ in Kooperation mit Ria Cheatom, Ika Hügel-Marshall und Aletta von Vietinghoff fest. Auf der Berlinale 2012 wurde dieser Film zum ersten Mal aufgeführt. Weltweit wurde der Film auf mehr als 68 Festivals gezeigt und erhielt sieben Filmpreise.

Unmittelbares Produkt ihrer Empowerment-Strategie war ein Buch, das im Orlanda-Verlag erschien: „Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ (1986).In den folgenden acht Jahren bis zu ihrem Tod verbrachte Audre Lorde regelmäßig mehrere Wochen pro Jahr in Berlin. Hier arbeitete sie an weiteren Buchprojekten, pflegte intensive Freundschaften und hielt vor allem engen Kontakt zu der von ihr mitbegründeten Schwarzen Community. In zahllosen Veranstaltungen in Berlin und anderen deutschen Städten vermittelte sie ihre Gedanken und lud zu Diskussionen ein. 

Audre Lorde starb 1992 in St. Croix auf den Virgin Islands (Karibik), wo sie in den letzten Jahren ihres Lebens ihren ständigen Wohnsitz hatte.

Immer noch aktuell

„When patriarchy dismisses us, it encourages our murderers.“ („Wenn das Patriarchat uns ausblendet, ermutigt es unsere Mörder.“)

Es dauerte beinahe vierzig Jahre, bis ihr vielleicht einflussreichstes Werk übersetzt wurde, was schon erstaunlich genug ist. Es ist umso bemerkenswerter, dass dieses Werk nach den Jahrzehnten genauso aktuell ist wie zum Zeitpunkt des Erscheinens. Seit Sommer 2021 kann man „Sister Outsider“ auch auf Deutsch lesen. 

In den letzten Tagen wurde oft gesagt, Putin halte dem schwachen Westen mit seiner rohen Männlichkeit den Spiegel vor. Dass es ein Weckruf für den verweichlichten Westen sein muss, sich nicht „Gender-Wahn“, „cancel culture“ und „Öko-Fetisch“ zu beschäftigen, sonder lieber mit Aufrüstung. 

Darum dieses abschließende Zitat von Audre Lorde: 

 „The master's tools will never dismantle the master's house.“ („Des Meisters Werkzeuge werden des Meisters Haus niemals demontieren.“)

*C. Metzger & C. Knuth


1 Während ihrer Highschoolzeit legte Audre Lord das y ihres Vornamen ab, sie fand es literarisch schöner, wenn beide Namen auf e endeten.

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