Interview: Grüne, Grindr und Gerechtigkeit

by

Zusammen mit Ulle Schauws bereitete der 37-jährige Vorsitzende der Grünen in Nordrhein-Westfalen und frisch gewählte Bundestagsabgeordnete für mögliche Koalitionsverhandlungen die queerpolitische Agenda vor. Eine Aufgabe, die sich beide dann auch in exponierter Stellung für die neue Grüne Fraktion im Bundestag vorstellen können. Wir trafen uns mit Sven Lehmann im Reichstagsgebäude.

Schwuler Einstieg: Nutzt du noch Dating-Apps?

Ja. Wobei die Vorstellung, dass sich hinter bestimmten Profilen AfDler oder rechte Burschenschaftler verbergen könnten, wenig appetitlich ist. Ich glaube aber, dass Dating-Apps wie Grindr grundsätzlich nicht mehr so wirklich interessant sind als Skandalthema. Es ist ja jetzt nicht so überraschend, dass ein schwuler Mann Sex hat.

Schon mal hier im Bundestag angeschaltet?

Die Dichte der Einschläge ist durchaus hoch. (lacht)

Du bist nicht weit vom schwulen Bermudadreieck untergekommen?

Ja, ich wohne in Charlottenburg in der Wohnung eines ehemaligen Kollegen. Ich freue mich sehr, weil sie im wunderbaren alten Westen und auch nicht weit weg vom Nollendorfkiez liegt.

Was gefällt dir an dem Kiez?

Ich war bisher in einigen Cafés, bei einer tollen Lesung von Oliver Sechting im Buchladen Prinz Eisenherz und im Hafen. Ich habe das Viertel als entspannt und vielfältig kennengelernt. Die Mischung ist inspirierend und anregend.

Wie schlägt sich Köln im Vergleich?

Die Kombi Köln-Berlin ist für mich perfekt. Beides sind queere Metropolen, beide haben eine gute Szene. Die Berliner Szene ist – soweit ich das bisher überblicken kann – etwas experimenteller, die Kölner Szene ist dafür heimeliger. Das meine ich nicht wertend in die eine oder andere Richtung. Wenn man in Köln auf der Schaafenstraße unterwegs ist, dann kann man sich wirklich zu Hause fühlen. Ich liebe auch die politischen Initiativen wie den Pride Salon, die Rainbow Refugees oder das Rubicon, wo hervorragende Arbeit geleistet wird. Die gibt es in Berlin aber natürlich auch. Von daher haben beide Städte etwas.

Was erwartest du von den Koalitionsverhandlungen – zumindest auf den Papieren aus der Sondierung sind ja wichtige Themen enthalten.

Ich würde mir wünschen – und ich erwarte das auch – dass eine neue Regierung sich nicht vom Rollback im Land und der Präsenz der AfD treiben lässt, sondern dass sie im Gegenteil eine progressive Gesellschaftspolitik macht. Wenn wir unserem Grundgesetz entsprechen wollen, also gleiche Rechte und Würde für alle, müssen wir noch sehr viel tun in Bereichen wie Antidiskriminierung, gesellschaftliche Vielfalt und Selbstbestimmung. Ich erwarte, dass von der neuen Bundesregierung diese Haltung in den Mittelpunkt ihrer Gesellschaftspolitik gestellt wird. Das erwarte ich übrigens von jeder Bundesregierung, unabhängig davon, ob Grüne daran beteiligt sind oder nicht.

Kannst du dir vorstellen, dass die CDU mit zwei liberalen Parteien als Partner zu mehr Zugeständnissen in diesen Fragen gezwungen werden kann?

Ja. Ich finde, in gesellschaftspolitischen Fragen sollten FDP und Grüne sich verbünden. Schon in der ersten Runde der Sondierungen hat die Union klargestellt, dass sie bei „nicht traditionellen Familienformen“ eigentlich keinen Änderungsbedarf sieht. Ich allerdings sehe da massiven Änderungsbedarf, weil der Staat nicht vorschreiben sollte, wie jemand zu leben hat, sondern die Vielfalt der Lebensweisen anerkennen und rechtlich absichern sollte. Ich glaube, das sieht die FDP ähnlich. Beispielsweise bei dem von uns geforderten Aktionsplan gegen Homo- und Transfeindlichkeit, bei der Reform des Transsexuellengesetzes – ich glaube da sind Bündnisse möglich und notwendig, denn bei der Union ist da wenig zu erwarten.

Was möchtest du in den vier Jahren erreichen?

Ich werde einen Schwerpunkt meiner Arbeit auf das Thema soziale Gerechtigkeit und Armutsvermeidung setzen, vor allem bei Älteren und bei Kindern und Familien. Wie geht es Menschen ohne Wohnung, Hartz-IV-Empfängern, Alleinerziehenden? Da haben wir noch einiges zu tun, damit Artikel 1 des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ auch für diese Menschen gilt. Die nächste Regierung muss so arbeiten, dass man in vier Jahren sagen kann: Wir haben Armut in diesem Land verringert. Das ist mein persönliches Ziel, und daran messe ich auch, ob ich einer Jamaika-Koalition etwas abgewinnen kann.

Das wäre also eine rote Linie für dich?

Eher eine grüne Linie: Wir müssen in diesen Bereichen vorankommen. Das harte Sanktionsregime bei Hartz IV muss überwunden werden, wir brauchen finanzielle Entlastung für Alleinerziehende, mehr und bessere soziale Angebote und eine Garantierente im Alter, damit weniger Menschen auf Grundsicherung angewiesen sind. Ich messe den Erfolg der kommenden Regierung daran, ob sie die soziale Schieflage im Land verringert hat.

Würdest du mit Nein stimmen, wenn doch ein – von vielen befürchteter – neoliberaler Vertrag herauskäme?

Ich mache meine Zustimmung zu einem Vertrag davon abhängig, ob ein Politikwechsel, für den ich und wir Grüne im Wahlkampf angetreten sind, erkennbar und garantiert ist. Ich lege großen Wert darauf, dass Abgeordnete in ihrer Entscheidung frei sind. Wenn ich persönlich diesen Politikwechsel – vor allem in den sozialen und gesellschaftspolitischen Fragen – nicht erkennen kann, dann werde ich das Projekt auch nicht mittragen.

Gibt es schon irgendeine Überraschung, irgendetwas, womit du nicht gerechnet hättest hier in deinem neuen Job?

Nichts Spezielles. Ich fühle mich in einigen Sachen bestätigt, hier läuft alles schneller und professioneller. Man muss dann aber natürlich auch sehr gewieft sein, um politisch Einfluss nehmen zu können. 

*Interview: Christian Knuth *

Back to topbutton